# taz.de -- Buch über den Matsutake-Pilz: Die Beziehungen des Pilzes
       
       > Das erste neue Leben nach Hiroshima war der Matsutake. Anthropologin Anna
       > Lowenhaupt Tsing spürt dem hochpreisigen Pilz nach.
       
 (IMG) Bild: Matsutake Pilze
       
       Matsutake heißt der Pilz. Es gibt ihn nicht nur „am Ende der Welt“, sondern
       durchaus, recht selten zwar, in Mitteleuropa, wo man ihm den seltsamen
       Namen Krokodilritterling verpasst hat. Die japanische und als solche
       international gebräuchliche Bezeichnung Matsutake besagt schlicht
       Kiefernpilz (Matsu = Kiefer, take = Pilz).
       
       Was selbst für japanisch zurückhaltende Höflichkeit eine krasse
       Untertreibung ist, denn für ein Kilo sind bis zu zweitausend Euro bezahlt
       worden. Bereits ein Matsutakescheibchen in der Hochzeitssuppe drückt daher
       besondere Wertschätzung für die Gäste aus. Also geht es um einen
       außergewöhnlichen Pilz.
       
       Rechtfertigt dieser allein die 446 Seiten, die das Buch hat? Die Autorin
       verpackt den Matsutake ganz geschickt in ein Kaleidoskop von Geschichten
       und Berichten, so dass man lange nicht durchblickt, worum es ihr eigentlich
       geht. Auch das Ende der Welt im Haupttitel lässt uns rätseln, wo dieses
       liegen könnte.
       
       Der Untertitel macht den Einstieg mit den Ruinen des Kapitalismus gleich
       noch geheimnisvoller. Und da die Autorin, eine US-amerikanische Chinesin,
       so selbstbezogen schreibt, haben wir es mit drei großen Unbekannten zu tun.
       Das riecht geradezu nach Krimi, jedenfalls nach einer guten Geschichte.
       Eine solche wird es, wie sich rasch zeigt.
       
       ## Woher kommt das Matsutake-Phänomen?
       
       Sie beginnt in Oregon, dem in Europa wenig bekannten US-Bundesstaat, greift
       aus nach Vietnam, Laos, Kambodscha, China, Japan und Finnland, kehrt wieder
       zurück in die USA zu dort lebenden Japanern und spinnt ein immer dichteres
       Geflecht, das sich um drei zentrale Themen rankt: Warum geben die
       Matsutake-Sammler ihre Pilze für ein paar Dollar ab, wenn in Japan doch das
       Tausendfache bezahlt wird? Wie bemächtigt sich der Kapitalismus dieser
       Lieferkette und was hat das alles mit dem Wald, mit der Zerstörung von
       Wäldern und mit Wiederaufforstungen zu tun?
       
       Die Ansatzstellen zur Behandlung der übergeordneten Problematik gibt der
       Pilz. Aus europäischer Sicht rätseln wir zwar mitunter, warum es sich beim
       Trüffel, unserem Gegenstück, nicht genauso oder zumindest sehr ähnlich
       verhält. Denn auch die Schwarzen Trüffel erzielt Spitzenpreise um die 2.000
       Euro das Kilo.
       
       Das entspricht den Höchstpreisen für Matsutake auf den Spezialmärkten in
       Japan. Aber die Weißen Trüffel aus dem Piemont kann mit 500 Euro pro 100
       Gramm sogar mehr als das Doppelte erreichen. Der Trüffelgeschmack ist zudem
       erheblich intensiver als das Aroma des Matsutake.
       
       Doch eine globale Verkettung von Trüffelsammler, Aufkäufer, Zwischenhändler
       mit mafiösen Strukturen und auktionsartigen Endverkäufen gibt es offenbar
       nicht. Sicher liegt dieser Unterschied nicht allein an der Bereitschaft der
       Japaner, exorbitante Preise für ein Luxusgut zu bezahlen, das selbst Kenner
       und Gourmets weit schwieriger einstufen können als edle Weine. Das
       Matsutake-Phänomen erzeugen auch nicht die in entlegenen nordamerikanischen
       Wäldern gestrandeten Flüchtlinge aus der Zeit des Vietnamkrieges. Aber
       woher rührt es dann?
       
       ## Wie bei einem guten Krimi
       
       Holzfirmen hatten Oregons Kiefernwälder für den schnellen Profit
       großflächig abgeholzt. Die US-amerikanische Staatsforstverwaltung
       kooperierte mit ihnen. Wie auch bei uns, ist man geneigt hinzuzufügen, wenn
       man das krampfhafte Streben unserer Staatsforstverwaltungen betrachtet, die
       schwarze Null oder sogar einen Gewinn zu erwirtschaften. Dabei dürfen
       russische Holzfirmen durchaus profitieren. Doch wie bei einem guten Krimi
       wäre es falsch, den erstbesten Schuldigen gleich für den richtigen zu
       halten.
       
       Neue Spuren werden gelegt. Auf anderen Fährten führen sie nach Japan. Dort
       galt der hierzulande bekannte und geschätzte Shiitake als König der
       Heilpilze. Der Matsutake löste ihn ab, weil nach dem Zweiten Weltkrieg die
       Kiefernwälder Japans fast vernichtet wurden. So wurde der vorher
       verbreitete, in enger Wurzelsymbiose lebende Kiefernpilz zur Rarität.
       
       Denn ohne die traditionelle Holz-, Harz- und Streunutzung, die den
       Kiefernwald begünstigte, breitete sich Laubwald aus. Inzwischen bedeckt
       dieser fast zwei Drittel der Landfläche Japans. Matsutake wächst darin
       nicht. Mit abnehmender Häufigkeit stieg der Preis. Er wurde zum Luxusgut.
       
       Aber zu einem äußerst schwer zu findenden, da man Matsutake ernten sollte,
       wenn er noch im Boden steckt und daher nicht madig oder angefressen ist.
       Das rückt ihn in die Nähe der Trüffel. Doch diese lassen sich mit auf ihren
       Geruch dressierten Hunden und Schweinen aufspüren. Die Matsutakesuche ist
       hingegen eine aus langer Erfahrung gewonnene Kunst.
       
       ## Wie es früher ausgesehen hat
       
       Mit dieser schlichten Feststellung könnte die Geschichte zu Ende sein. Doch
       die Verflechtungen gehen weiter. Sie betreffen Ökologie und Umweltschutz
       unserer Zeit. Eine Grundannahme, das stabile Gleichgewicht im
       Naturhaushalt, wird in Frage gestellt. Denn sowohl die Kiefernwälder
       Oregons, die vom Feuer geprägt und von Waldbränden abhängig waren, als auch
       die japanischen Kiefernwälder existierten fern vom Gleichgewicht. Sie waren
       Ergebnisse ökologischer Katastrophen.
       
       Diese durch nachhaltige Forstwirtschaft zu verhindern, bedeutete das Ende
       solch reichhaltiger und produktiver Waldtypen. Ganz folgerichtig formierten
       sich in Japan Bürgerinitiativen, Satoyama-Bewegung genannt. Ihr Ziel es
       ist, erneut devastierte Kiefernwälder zu erzeugen, in denen der Matsutake
       gedeiht.
       
       Sie bedienen damit die nostalgische Erinnerung daran, wie es früher im Wald
       des Heimatdorfes so ausgesehen hatte. Die Ruinen, die der Kapitalismus mit
       seiner Ausbeutung der Natur hinterlassen hatte, sind neues Ziel oder
       Übergangsstadium zurück zum Alten. Und zu neuer Wertschöpfung.
       
       ## Eine Welt, die gut genug ist
       
       Nahtlos fügen sich die entwurzelten Gruppen von Flüchtlingen aus dem
       Vietnamkrieg in die Story. Die heutigen Reste von Flüchtlingsgruppen aus
       den Nachwehen des Vietnamkrieges und des kommunistischen Sieges in
       Südostasien nutzen die nordamerikanischen Wälder als Unterschlupf in
       ähnlicher Weise, wie sie vorher die heimatlichen Dschungel bewohnt hatten.
       
       Der Krieg spülte sie in die Wälder Nordamerikas, wo sie, wie könnte es
       anders sein, auf einheimische Aussteiger und vom Vietnamkrieg Geschädigte
       trafen. Vernichtete Wälder und entwurzelte Menschen formieren sich zu den
       Anfangsgliedern einer Stafette, an deren Ende die Superreichen Japans und
       Chinas stehen. An einem Pilz exemplarisch ausgebreitet, wird ersichtlich,
       wie sich der transformierte Kapitalismus des Systems von Lieferketten
       bedient. Es wird zunehmend schwieriger, am Endprodukt festzustellen, wo und
       unter welchen Bedingungen es erzeugt worden war und welche Zwischenstufen
       es genommen hat.
       
       So fasst die Autorin zusammen: „Unbestimmtheit ist nicht das Ende der
       Geschichte, sondern eher der Knotenpunkt, an dem viele Anfänge in
       Wartestellung liegen.“ – „Das Beste, was wir tun können, ist nach einer
       Welt zu streben, die gut genug ist, wobei ‚gut genug‘ immer unvollkommen
       und verbesserungswürdig heißt.“ In dieser Welt können wir jedoch „nicht
       alles reparieren, auch das nicht, was wir kaputt gemacht haben“.
       
       18 Apr 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Josef Reichholf
       
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