# taz.de -- Pro & Contra Deutsche Linke und Kurden: Rojava – eine realisierte Utopie?
       
       > Das kurdische Rojava ist für viele deutsche Linke ein Ort gelungener
       > Revolution. Ist es das zu Recht – oder eine Projektionsfläche?
       
 (IMG) Bild: DemonstrantInnen zeigen Solidarität mit der kurdischen Region Rojava
       
       ## Ja:
       
       Wenige Tage [1][nachdem ich im März 2017 in der „Demokratischen
       Konföderation Nordsyrien“, in Rojava, ankam, erschien mir Rojava nicht
       weniger als eine Utopie, die im Begriff war, verwirklicht zu werden.]
       
       Ihre Protagonist*innen, diejenigen, die sich daranmachten, hier eine
       Gesellschaft jenseits von Kapitalismus und Nationalstaatlichkeit zu
       errichten, durfte ich in den kommenden Monaten in vielen sehr
       unterschiedlichen Situationen kennen lernen: Da waren professionelle
       Politaktivist*innen, die geschult an den Ideen Abdullah Öcalans
       darangingen, ihre Ziele zu verwirklichen; da waren junge Frauen, die zum
       ersten Mal erfuhren, was es heißt, selber Politik machen zu können; und da
       waren greise Männer, die Nachtschichten schoben, um ihr Viertel gegen die
       Feinde der Revolution zu verteidigen.
       
       Das Gerüst an politischen Institutionen, das Skelett dieser Utopie, ist
       simpel. Es gibt „Kommunen“, Organe politischer Willensbildung von unten, in
       denen sich ein paar Straßenzüge selbst organisieren. Die Kommunen haben
       „Komitees“ – meistens etwa zehn bis fünfzehn – zu allen Bereichen des
       gesellschaftlichen Lebens: Jugend, Bildung, Soziales, Wirtschaft,
       Selbstverteidigung und so weiter.
       
       Die Kommunen sind zusammengefasst in „meclis“, Räten für Stadtteile, diese
       in den Stadträten, bis zur Ebene des Kantons. Drei Kantone – Afrin, Kobani,
       Cizire – gibt es, und die sind wiederum zusammengefasst in einem
       „Demokratischen Volkskongress“. Alle Ämter sind mit zumindest einer
       weiblichen Kovorsitzenden zu besetzen, zudem gibt es auf allen Ebenen noch
       zusätzlich völlig autonome Frauenstrukturen.
       
       Auf dem politischen Feld sind – stellt man in Rechnung, dass diese
       Revolution erst seit sieben Jahren und inmitten eines brutalen Krieges
       aufgebaut wird – wirklich erstaunliche Fortschritte festzustellen. Klar, es
       gibt regionale Unterschiede, aber insgesamt kann man sagen, das System wird
       angenommen.
       
       Noch ganz am Anfang steht die Revolution im Bereich der Wirtschaft und der
       Ökologie. Erklärtes Ziel ist es, eine Ökonomie auf Basis von Kooperativen
       zu errichten, die zugleich ökologisch nachhaltig sein soll. In beiden
       Bereichen bleibt viel an Arbeit zu tun, aber beides wird angegangen.
       
       Nun kann man sagen: Das klingt ja kitschig. Das muss ja Propaganda sein.
       Und in der Tat, es ist nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte der
       Wahrheit ist: Dieser Aufbau ist hart erkämpft. Ohne die Opfer, die Tausende
       Kämpfer*innen der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG und YPJ
       erbracht haben, wäre er nicht möglich gewesen.
       
       Und ebenso richtig ist: Dieser Prozess vollzieht sich nicht ohne
       Widersprüche, nicht ohne Brüche und nicht ohne – leider notwendige –
       taktische Allianzen mit allen möglichen Kräften in der Region. Auch richtig
       ist: Er ist weit davon entfernt, abgeschlossen zu sein. Weder ist bislang
       eine „perfekte“ Demokratie in Rojava verwirklicht noch der Sozialismus. Und
       – Überraschung – natürlich ist auch das Patriarchat nicht überwunden.
       
       Aber der Weg der Bevölkerungen Nordsyriens hat gezeigt, dass es zumindest
       möglich ist, in diese Richtung aufzubrechen. Er hat Hunderttausenden
       Menschen Hoffnung gegeben, dass ein gelingendes Zusammenleben möglich ist –
       und das weit über die Grenzen Syriens hinaus. Für mich – und die meisten
       anderen Internationalist*innen, mit denen ich zusammen kämpfen durfte –
       waren die Erfahrungen, die wir dort gemacht haben, eine Zäsur im Leben.
       
       Wir waren verzweifelt, hatten den Glauben an wirkliche Revolutionen
       verloren. Rojava gab uns die Hoffnung auf die Realisierbarkeit konkreter
       Utopien wieder.
       
       Peter Schaber 
       
       ***
       
       ## Nein:
       
       Es fällt schwer, während die Menschen in Afrin um ihr Leben fürchten
       müssen, über das Verhältnis deutscher Linker zu Rojava zu schreiben. Was
       spielt es angesichts der Tragödien vor Ort für eine Rolle, wie sich eine
       gesellschaftlich marginalisierte Linke zu Kurdistan positioniert? Aufrufe
       an internationale Solidarität verhallen weitgehend folgenlos. Sie
       erscheinen, trotz martialischer Sprache und der Rede von Widerstand, nur
       als Ausdruck eigener Ohnmacht oder Selbstüberschätzung.
       
       Als 2014 während der Belagerung Kobanis durch den „Islamischen Staat“
       ausgerechnet die US-Airforce der syrischen Schwesterorganisation der PKK zu
       Hilfe kam, schien nichts an den Koordinaten liebgewonnener linker
       Weltbilder mehr zu stimmen. Schließlich verorteten sich PYD und PKK im
       linken, antiimperialistischen Spektrum. Die PKK steht seit Jahren auf der
       US-Terrorliste. Und doch schlossen die USA in Syrien ein taktisches Bündnis
       mit der PYD und unterstützten sie im Kampf gegen den IS.
       
       Anfang Januar gab dagegen Russland, das in Teilen der Traditionslinken noch
       immer als Erbe der Sowjetunion gilt, der Türkei grünes Licht, in Afrin
       einzumarschieren. Ausgerechnet in Kurdistan kamen die politischen
       Koordinaten schon kurz nach Ende des Kalten Krieges durcheinander: Es waren
       1991 die USA, Großbritannien und Frankreich, die über dem Nordirak eine
       Schutzzone gegen Saddam Hussein verhängten und dort eine kurdische
       Autonomie ermöglichten. Ohne Eingreifen des „imperialistischen Washington“
       wiederum wäre Kobani 2014 wohl an den IS gefallen.
       
       Ob man es mag oder nicht, dies sind die Fakten. Dagegen dominieren in der
       Linken verklärende und revolutionsromantische Reisereportagen das Bild von
       Rojava. Schon seit jeher ist der Nahe Osten eine Projektionsfläche, und in
       den Kurden sieht man das vermeintlich authentische unterdrückte Volk per
       se, das möglichst noch in traditionellen Gewändern gegen fremde Besatzer
       ankämpft.
       
       Wenn dies dann noch mit marxistischem Vokabular und kämpfenden
       Fraueneinheiten geschieht, so scheint endlich das erfolgreiche linke
       Drittweltexperiment gefunden zu sein. Allzu oft geht es um eigene
       Befindlichkeiten: Die „kurdische Bewegung“ habe, schreibt das [2][Lower
       Class Magazine], den „‚subjektiven Faktor‘ in der revolutionären Politik
       wiederentdeckt. Sie hat (…) unsere Gefühle, unseren Alltag, unsere Art zu
       leben zurück in den politischen Bereich gerückt.“
       
       Repression gegen innenpolitische Gegner, Zwangsrekrutierungen und andere
       Maßnahmen, die nicht ins Bild passen, werden ausgeblendet. Was zählt, sind
       eigene Gefühle und Projektionen. Deshalb gerät die Forderung nach
       Solidarität auch zur gesinnungspolitischen Phrase. Die PYD/PKK bedient als
       letzte Gruppe aus dem Trikont die alte linke Bedürfnisstruktur.
       
       Nun ist zu befürchten, dass mit dem Fall von Afrin die Begeisterung für das
       „revolutionäre Rojava“ abflauen und die Suche nach neuen revolutionären
       Subjekten beginnen wird. Not täte, neben einer Solidarität mit den Menschen
       vor Ort – nicht mit Parteistrukturen –, sich endlich vom unseligen
       „subjektiven Faktor“ zu verabschieden, der seit den 60er Jahren den linken
       Internationalismus dominiert.
       
       Thomas von der Osten-Sacken
       
       21 Mar 2018
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://lowerclassmag.com/2017/04/rojavatagebuchi/
 (DIR) [2] http://lowerclassmag.com/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Peter Schaber
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