# taz.de -- Essay Integrationskurse: Ein Kulturschock für beide Seiten
       
       > Die Vorstellung, dass Kurse integrieren, ist ebenso naiv wie konzeptlos.
       > Ein wenig Sprachkurs und Landeskunde haben nichts mit der Realität zu
       > tun.
       
 (IMG) Bild: Ab ins kalte Wasser!
       
       Seit vier Jahren unterrichte ich Deutsch als Zweitsprache in sogenannten
       Integrationskursen. Ein solcher Kurs umfasst in der Regel 700
       Unterrichtseinheiten – das sind sieben Monate Unterricht, Ferienzeiten
       nicht mitgerechnet. Sechs Monate davon sind der deutschen Sprache gewidmet.
       Der Fokus liegt auf der Alltagstauglichkeit: Lebensmittel einkaufen,
       Arzttermine vereinbaren oder Schuhe umtauschen. Den Erfolg darin misst der
       „Deutschtest für Zuwanderer“. Dann folgen vier Wochen Landeskunde: Der
       „Orientierungskurs“ vermittelt die aktuelle Politik in Deutschland,
       deutsche Geschichte ab dem Zweiten Weltkrieg und deutsche Kultur. Am Ende
       folgt ein Multiple-Choice-Test mit dem nüchternen Titel „Leben in
       Deutschland“.
       
       Anfangs habe ich sieben Monate für sehr viel Zeit gehalten. Ich habe mir
       nicht vorstellen können, dass Integration so viel mehr umfasst als guten
       Willen und Wissensvermittlung. Manchmal frage ich mich heute sogar, ob so
       ein enorm schwieriges Vorhaben überhaupt je gelingen wird. Die Vorstellung,
       Integration mit Kursen zu bewerkstelligen, kommt mir vor dem Hintergrund
       meiner heutigen Erfahrung jedenfalls naiv vor.
       
       Mein aktueller Arbeitgeber ist ein kleiner Bildungsträger in
       Berlin-Neukölln. Sein Auftraggeber ist, wie bei allen Integrationskursen,
       das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf). Ich erteile einen Kurs
       mit einer Kollegin, sie unterrichtet zwei Tage, ich drei. Heute ist
       Mittwoch, mein erster Unterrichtstag in der Woche. Eine halbe Stunde vor
       Beginn bin ich im Klassenzimmer, drehe die Heizung auf, lege die
       Teilnehmerliste zum Unterschreiben auf den Tisch. Ich schreibe ein paar
       alltägliche Verben an die Tafel: essen, einkaufen, kochen, lernen. Die
       Frage, die ich stellen werde, wird lauten: „Was haben Sie gestern gemacht?“
       
       Der Kurs geht seit gut drei Monaten, und wir üben seit ein paar Wochen das
       Perfekt. Sollte den Teilnehmern gar nichts einfallen – diese Verben gehen
       immer. Der Unterricht beginnt um 9 Uhr. Kurz nach 9 Uhr kommen die Ersten
       und setzen sich auf ihre Stammplätze. Ich stelle meine obligatorische
       Frage, der erste Teilnehmer beantwortet sie, versucht, Sätze mit den Verben
       auf der Tafel zu bilden. Er sieht mich mit großen Augen an: Perfekt, was
       könnte das sein? Nie gehört. Die Teilnehmerin gegenüber verdreht die Augen,
       korrigiert seine Fehler, gibt detaillierte Einblicke in ihr gestriges Tun,
       beinahe fehlerfrei.
       
       Ein paar andere trudeln in der nächsten halben Stunde ein. Mehr als 20
       Namen stehen auf meiner Liste, um 10 Uhr 30 sind immerhin 13 anwesend.
       Erfreulicherweise geht niemand nach der zweiten Pause um 12 Uhr wie sonst
       eigentlich immer. Ich lasse die fehlenden Teilnehmer inzwischen
       nachträglich ein Entschuldigungsformular ausfüllen, auf dem Gründe
       angegeben werden müssen. Mit jedem neuen Kurs werde ich strenger. Mehr und
       mehr finde ich mich in einer Rolle wieder, die ich nie wollte – die einer
       Erzieherin für erwachsene Menschen.
       
       ## Wer bezahlt, kommt auch
       
       Meine Kollegin sieht die Wurzel allen Übels in dem Grundsatz „Was gratis
       ist, ist nichts wert“. Wir sind uns darin einig, dass diejenigen, die für
       den Kurs bezahlen müssen, auch kommen. Wir sprechen über einen bescheidenen
       Obolus, vielleicht in Verbindung mit einem positiven Anreiz: Wer sich als
       lernwillig erweist, könnte den gezahlten Betrag zurückbekommen. Das könnte
       die Wertschätzung für die Kurse erhöhen, sie von der „Das steht uns
       zu“-Mentalität entkoppeln.
       
       Als ich 2013 selbst die Schulbank drückte, um Bamf-Kurse unterrichten zu
       dürfen, gehörte der Umgang mit heterogenen Gruppen zum Curriculum. Diese
       spalten sich, grob gesagt, in „lernerfahrene“ und „lernunerfahrene“
       Teilnehmer auf, in „Schnell“- und „Langsamlerner“. Das Dilemma mit der
       Binnendifferenzierung verfolgt mich seit meinem ersten Unterrichtstag.
       Damals saß ich vor einem internationalen Grüppchen in Friedrichshain, ein
       promovierter Mann aus dem Iran war darunter, eine schüchterne Frau aus
       Mazedonien, ein sympathischer Mann aus Ghana. Letzterer war immer guter
       Laune, er lachte viel, vor allem über sich selbst. Humor war auch nötig,
       saß er doch überhaupt das erste Mal in seinem Leben in einer Schule.
       Allerdings hatte er irgendwo ein bisschen lesen und schreiben
       aufgeschnappt, wodurch er nicht in die Alphabetisierungskurse passte.
       
       Im Laufe der Zeit wurde mir bewusst, was die „Lernunerfahrenen“ unter
       anderem nicht kennen: abstraktes Denken. Eine in den Lehrwerken beliebte
       Schreibübung lautet sinngemäß: Sie besuchen am Wochenende Ihre kranke
       Schwester. Bitten Sie Ihre Nachbarin, Ihre Katze zu füttern. Die Aufgabe
       mit der Katze löst immer wieder Unverständnis aus: Was muss ich machen?
       Meine Schwester ist nicht krank, ich habe keine Katze, ich habe auch keine
       Nachbarin, ich wohne in einem Heim.
       
       Ich wünsche mir homogenere Gruppen, spezielle Kurse für Schnelllerner, die
       in den gemischten Kursen dauerfrustriert sind, und viel mehr Stunden für
       Menschen mit geringer Schulerfahrung, denen es nicht besser geht.
       Hilfreich wäre eine zentrale Datenbank, die alle Integrationskursteilnehmer
       nach einem Einstufungstest erfasst.
       
       ## Religion, Ehre, Respekt
       
       Neben der Sprache aber geht es auch um Herausforderungen, die schwerer zu
       evaluieren sind als ein Deutschtest. Allen voran der Umgang mit Religion.
       Die Zugehörigkeit zum Islam und die Abgrenzung zu anderen Religionen sind
       ein permanentes Thema in unseren Kursen. Immer wieder werden aus kleinen
       Vorfällen große Themen. Meist geht es um Ehre, Respekt und um das Einhalten
       religiöser Regeln. Emotionale Debatten entstehen, ich muss handeln.
       
       Zum Beispiel, wenn sich ein muslimischer Teilnehmer weigert, einen Dialog
       mit einer muslimischen Teilnehmerin zu lesen. Sie habe nämlich zuvor in der
       U-Bahn seinen Gruß nicht erwidert. „Schlechte Mädchen“, sagt er und zeigt
       mit dem Finger auf die junge Frau, die unruhig auf dem Stuhl hin und her
       rutscht.
       
       Völlig falsch, mischt sich ein anderer Teilnehmer ein, eine muslimische
       Mitschülerin in Begleitung eines Mannes dürfe außerhalb des Klassenraumes
       nicht angesehen, geschweige denn gegrüßt werden: „Du hast keinen Respekt
       vor Frauen“, lautet sein erzürntes Fazit, eine Frau mit Kopftuch nickt. Ich
       verlagere die Diskussion in die Pause. Werte, Verhaltensregeln, Weltbilder
       – all das prallt bei uns aufeinander. Eine junge Muslimin ohne Kopftuch?
       Unmöglich. Männliche Frauenärzte? Müssen geisteskrank sein. Gehören
       verboten. Die Evolutionstheorie? Schallendes Gelächter. Kompletter
       Schwachsinn.
       
       Wie weit unterschiedliche Sozialisationen das Denken prägen, sehe ich vor
       allem in den Orientierungskursen. Hier muss der komplizierte Wortschatz –
       Grundgesetz, Bundesversammlung, Föderalismus, Verfassungsgerichtshof – mit
       heiklem Inhalt gefüllt werden. Allen voran: die Homosexualität, der
       Holocaust und die Beziehung Deutschlands zu Israel. Themen, die
       bekanntermaßen auch bei uns kontrovers gesehen werden.
       
       Die Tatsache, dass Frauen Frauen und Männer Männer unbestraft lieben
       können, stößt auf breite Ablehnung in unseren Kursen. Man müsste
       Homosexuelle kurieren, lautet die dezenteste Lösung dieses „Problems“, die
       Vorschläge der religiösen Hardliner möchte ich hier gar nicht erst
       wiedergeben. „Das müssen Sie tolerieren, wenn Sie hier leben wollen.“
       Dieser Satz ist mein kleines Orientierungskursmantra.
       
       Besonders oft sage ich ihn, wenn der Holocaust und seine Folgen auf dem
       Unterrichtsplan stehen. Die Person Hitler fasziniert. (Warum bevorzugte er
       blonde Menschen, wenn er doch selber schwarzhaarig war?) Der millionenfache
       Mord an den Juden, und das ist das Positive, stößt erfahrungsgemäß auf
       Entsetzen. Allerdings, so scheint es, sind der Holocaust und die Entstehung
       Israels für die meisten Teilnehmer zwei unabhängige Ereignisse. Der
       Nahostkonflikt überschattet jedes Verständnis für die besondere Beziehung
       zwischen Deutschland und Israel.
       
       Ich fragte vor Kurzem einen Islamwissenschaftler um Rat: Wie vermittle ich
       meinen Teilnehmern unsere Werte? Wie kann ich sie erreichen, sie für unser
       Weltbild öffnen? „Stellen Sie sich vor, Sie lebten jetzt in Saudi-Arabien.
       Sie würden sicher irgendwann Arabisch sprechen, aber würden Sie deshalb
       auch gut finden, wenn Schwule zum Tode verurteilt würden? Oder Ihr Mann mit
       drei weiteren Frauen auftaucht?“ Vermutlich nicht, ich wäre dort schwer
       integrierbar.
       
       Die Integrationskurse sind ein Kulturschock – für beide Seiten. Die
       Vorstellung, dass ein bisschen Sprachkurs und etwas Landeskunde helfen, hat
       mit der Realität nichts zu tun. Integration, das ist mir inzwischen klar,
       ist vor allem eines: ein langfristiges Projekt, das vielleicht sogar über
       Generationen gehen wird. Ein Konzept oder auch nur eine realistische
       Vorstellung von der Aufgabe fehlen bisher. Toleranz, Wille und
       Entgegenkommen muss vorhanden sein, von beiden Seiten. Menschen, deren
       Kinder in Deutschland einmal eine Heimat finden sollen, müssen sich
       willkommen fühlen.
       
       Auf der anderen Seite wollen wir keine Zuwanderer, die Schwule verlachen,
       Juden anpöbeln oder Mädchen an öffentlichen Orten zwischen die Beine
       greifen. Hier werden warnende Worte und das Hoffen auf Einsicht alleine
       nicht ausreichen. Niemand soll sich assimilieren, also seine Kultur
       zugunsten einer neuen ablegen müssen. Aber Sprachkenntnisse allein bedeuten
       noch keine Integration. Vor allem müssen die Werte unseres Grundgesetzes
       toleriert werden. Das können und müssen wir von allen erwarten, die hier
       leben wollen.
       
       3 Mar 2018
       
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