# taz.de -- Galerie Esther Schipper: Mehr Form als Farbe
       
       > Reduzierte Rauminstallationen und sparsam gesetzte geometrische Linien:
       > brasilianische Künstler in der Galerie Esther Schipper.
       
 (IMG) Bild: „120 Levels“ von Jac Leirner, Esther Schipper, Berlin, 2018
       
       Als 1951 die Biennale von São Paulo gegründet wurde, gehörte Mira Schendel
       zu den ersten teilnehmenden brasilianischen Künstlerinnen. 1919 in Zürich
       geboren, war die Tochter eines jüdischen Vaters und einer katholischen
       Mutter nach Stationen während des Zweiten Weltkrieges in Italien, Bulgarien
       und Kroatien 1949 nach Brasilien emigriert.
       
       In den 1950er Jahren erlebte das südamerikanische Land einen vom
       Wirtschaftswachstum ausgelösten Modernisierungsschub. In der bildenden
       Kunst fand diese kulturelle Aufbruchstimmung im Konstruktivismus und
       Neokonstruktivismus einen von gesellschaftlichen Utopien beeinflussten,
       eigenen Ausdruck.
       
       In der aktuell in der Galerie Esther Schipper zu sehenden Ausstellung
       „Afinidades Eletivas“ – „Wahlverwandtschaften“ auf Deutsch – nimmt das Werk
       Mira Schendels (1919–1988) einen zentralen Platz ein. Gezeigt wird
       „Variantes II“, eine Gruppe schwebend im Raum hängender, geometrisch
       reduzierter Zeichnungen auf durchscheinendem Reispapier. Die
       vierzehnteilige Serie gehört zu den umfangreichen Monotipias –
       Einzeldrucken, die zwischen 1964 und 1966 entstanden. Eine spätere, rot
       eingefärbte Monotypie mit buchstabengleichen Zeichen setzt dazu einen
       räumlichen Kontrapunkt.
       
       Außerhalb Brasiliens kaum bekannt sind dagegen die abstrakten Arbeiten von
       Paulo Roberto Leal (1946–1991). Der Künstler aus Rio de Janeiro arbeitete
       zunächst als Angestellter der Banco do Brasil, wo er dann ab Ende der
       1960er Jahre die Ausstellungen der Bank kuratierte.
       
       Von der geometrischen Abstraktion des Neokonstruktivismus inspiriert,
       begann Leal Anfang der 1970er Jahre seine eigene künstlerische Karriere mit
       dreidimensionalen Papierarbeiten hinter Plexiglas – Materialien, die auf
       seine beruflichen Erfahrungswelt verweisen. 1971 wurde er auf der elften
       Biennale von São Paulo ausgezeichnet. Aus Protest gegen die Repression der
       Militärregierung hatten damals zahlreiche Länder die Biennale boykottiert,
       viele brasilianische Künstler lebten im Exil.
       
       Die Berliner Schau präsentiert aus jener frühen Phase Leals die Serie
       „Armagem“ mit sechs Wandobjekten unterschiedlicher Formate, die aus
       wellenförmig arrangierten Papierrollen unter weiß oder braun getöntem
       Plexiglas bestehen. „Armadura“, eine kleinere Messing-Holz-Skulptur von
       1978 ergänzt das Ensemble.
       
       In „Afinidades Eletivas“ werden die historischen Positionen von Schindel
       und Leal in drei weiteren Räumen mit minimalistischen Installationen der
       brasilianischen KünstlerInnen Marcius Galan (*1972), Fernanda Gomes (*1960)
       und Jac Leirner (*1961) kombiniert. Allerdings irritiert in der von dem
       Kunsthändler und Betreuer des Nachlasses von Mira Schendel Olivier
       Renaud-Clément organisierten Gruppenausstellung der fast vollständige
       Ausschluss von Farbe.
       
       Diese recht formal wirkende Gemeinsamkeit der gezeigten Auswahl
       historischer und zeitgenössischer Kunst suggeriert vielleicht eine allzu
       offensichtliche Nähe und Kontinuität, die aber den präsentierten
       KünstlerInnen und dem brasilianischen Kunstkontext nicht ganz gerecht wird.
       
       Mit wenigen geometrischen Linien und dezentem Farbeinsatz trennt Marcius
       Galans „Section“ (2012) in der Galerie ein räumlich schräg verlaufendes
       Dreieck vom Boden bis zur Decke und schafft so für den Betrachter die
       perfekte Illusion einer gläsernen Grenze und eines architektonischen
       Körpers. Gegenüber platziert der Künstler aus São Paulo mit „Translucent“
       (2018) einige zerbrechlich an die Wand gelehnte schmale Rahmenprofile. Auch
       das eine Art modernes Trompe-l’œil.
       
       Deutliche Korrespondenzen zu Schendels Monotipias finden sich in Fernanda
       Gomes’ reduzierter Rauminstallation aus sieben Objekten ohne Titel. Mit
       einer aus Rio de Janeiro mitgebrachten schlichten Auswahl von Material aus
       Holz oder Leinwand entwarf die Künstlerin vor Ort im Wechselspiel von Licht
       und Schatten ein zartes Ensemble geometrischer Formen und Figuren in Weiß.
       
       Doch nicht immer ergeben sich durch die Betrachtung unmittelbare Hinweise
       auf „wahlverwandtschaftliche“ Beziehungen unter den Beteiligten. So erkennt
       Jac Leirner, die in Berlin eine geometrisch gehängte Anordnung von 120
       cremefarbenen Wasserwaagen („120 Levels“, 2018) und eine großflächige
       Wandarbeit aus Zigarettenpapier zeigt, eine gewisse geistige Nähe zu Mira
       Schendels rastloser künstlerischen Produktion, empfindet aber vor allem
       biografisch eine Verbindung zu ihr: „Ich bin aufgewachsen mit ihren
       Arbeiten im Haus meiner Eltern.“
       
       Schließlich zählt die Kollektion ihres Vaters Adolpho Leirner mit über
       hundert Werken zu einer der herausragendsten Sammlungen konstruktiver Kunst
       aus Brasilien. 2007 wurde die Sammlung an das Museum of Fine Arts in
       Houston verkauft.
       
       Das seit Jahren große Interesse an der lateinamerikanischen Moderne erklärt
       sich einerseits aus dem Drang US-amerikanischer und europäischer
       Kunstmärkte, immer neue Territorien zu erobern. Gleichzeitig ist die Suche
       nach einem anderen künstlerischen Ausdruck auch eine Antwort auf die
       globalisierte Welt, die nicht mehr nur von einem Standort aus betrachtet
       werden will.
       
       14 Feb 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Eva-Christina Meier
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Mexiko Stadt
 (DIR) Schwerpunkt Berlinale
       
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