# taz.de -- Kluges Musiktheater: Lucia verrückt gemacht
       
       > So politisch kann Belcanto-Oper sein! Paul-Georg Dittrichs kluge „Lucia
       > di Lammermoor“-Lesart in Bremen.
       
 (IMG) Bild: Sound des Abseitigen: Erklingt die Glasharmonika, muss Lucias Singen Wahnsinn sein.
       
       Jetzt ertönt die Glasharmonika. Regisseur Paul-Georg Dittrich hat sie.
       Genau genommen ist es in diesem Fall ein Verrophon, bei dem die Gläser
       nicht wie bei der Armonika gedreht werden und die Länge von Bedeutung ist –
       aber klanglich ist das sehr nah dran. Und Regisseur Dittrich hat dieses
       Instrument verdientermaßen wie einen Hauptdarsteller auf die Bühne eines
       allerliebst-nostalgischen Wandertheater-Guckkasten platzieren lassen. Die
       haben Pia Dederichs und Lena Schmid auf die Szene der von ihnen für die
       „Lucia di Lammermoor“-Produktion eher kahl ausgestattete Bremer
       Goetheplatzoper gefahren.
       
       Und nun ist, zusammen mit Lucia, Philipp Alexander Marguerre, einer der
       weltweit drei oder vier Verrophon-Profis, aus dem Obergeschoss per Lift
       herabgeschwebt. Gleich schreitet er federnden, aber gemessenen Schritts die
       Stufen hinauf zu seinem Instrument, taucht würdevoll die Finger in die
       Wasserschale, denn nur feuchte Finger bringen das Glas zum Schwingen.
       
       Und „Eccolà“ ruft, mit schön eklig-selbstgefälligem Bass Christoph Heinrich
       als Pfaffe Raimondo Bidebent – mit Bi am Anfang wie bigott – und lenkt noch
       einmal mit theatraler Geste die Blicke aufs Beweisstück. Und dann singt,
       neben der Bühne-auf-der-Bühne, Lucia di Lammermoor ihre berühmteste Arie.
       In deren Walzertraum sieht sie wach ihr unmögliches Liebesglück, Rosen,
       hört „un’armonia celeste“, und makellos klar ist der Sopran Nerita
       Pokvytytes, straight und rein, alles in Dur. Wunderschön singt diese Lucia.
       Und fast ebenso schön klingt und tönt die Glasharmonika unablässig, und
       begleitet sie. Also muss ihr Singen Wahnsinn sein.
       
       ## Wie Wahnsinn klingt
       
       Denn wie Wahnsinn klingt, das entscheidet jede Epoche für sich. Seit Beginn
       des Tonfilms haben die körperlosen Sphärenklänge von Trautonium, Theremin
       oder schließlich dem guten alten Moog die akustische Darstellung eines in
       sich frei drehenden Denksystems gleichsam monopolisiert, dessen Kontakt zur
       Umwelt gestört ist. Die Glasharmonika verkörpert den Sound des Abseitigen
       hingegen relativ unangefochten, als im September 1835 – wenige Wochen nach
       der Geburt von Elisha Gray, dem Erfinder des Synthesizers – Gaetano
       Donizettis „Lucia di Lammermoor“ uraufgeführt wird.
       
       Wenige haben sich dieser Konvention so eindrucksvoll bedient wie Donizetti,
       der mit dem Reibeidiophon den wunderschönen Gesang als irre zu markieren,
       den er der Frau in den Mund komponiert hat, die gerade den ihr aus
       politisch-finanziellen Gründen aufgedrängten Gatten in der Hochzeitsnacht
       kurzentschlossen erdolcht hat.
       
       Denn das ist ja die Handlung. Darauf hat Librettist Salvadore Cammarano den
       Roman Walter Scotts reduziert, den er als Vorlage nutzt. Für die
       schottische Historie der Hochrenaissance interessiert er sich ebenso wenig
       wie ein heutiger Operngänger für die inneritalienischen Spannungen des 19.
       Jahrhunderts, sofern er noch ganz bei Trost ist. Die Ränke und
       Streitigkeiten und Kriege dort rührt er zu einem düsteren Mash-up zusammen,
       um vor diesem bedrohlich schwelenden Hintergrund das bedrückende
       Kammerspiel um Lucias Liebe zu Sir Edgardo di Ravenswood gedeihen zu
       lassen.
       
       Den empfindet ihr Bruder Lord Enrico, der das ruinierte führnehme Haus der
       Lammermoors über die Zeit retten soll, als Erzfeind: Er möchte, von
       Raimondo beraten und bedrängt, Lucia mit dem viel zahlungskräftigeren Lord
       Arturo verkuppeln. Beide täuschen ihr also vor, der schöne Edgardo hätte
       sie verlassen – dabei ist Hyojong Kims Tenor lauterer als Gold und
       wahrhaftiger als die Sonne.
       
       Ob sie am Ende dem Drängen ihres spinnerten Bruders nachgibt, den Birger
       Radde mit zupackender Intensität herrlich unseriös spielt, oder auf den
       Geistlichen reinfällt, oder beides zugleich, ist unklar: Jedenfalls
       heiratet sie den zuverlässigen Tenor Luis Olivares Sandoval, also Lord
       Arturo, den reichen Blödmann ohne große Momente. Umgehend verschwindet er
       in den Kulissen, wo er den erbärmlichsten Tod stirbt, den die Kunstform
       Oper kennt: unsichtbar und schweigend. Der Rest ist Wahnsinn.
       
       ## Kühne Einfälle
       
       Regisseur Dittrich ist ein Rising Star des Musiktheaters. Für Anfang April
       hat er die wichtige Samuel Penderbayne-Uraufführung „I.th.Ak.A“ an der
       Hamburgischen Staatsoper übernommen, und voraussagen lässt sich, dass ihn
       das endgültig aufs Radar der Großfeuilletons bringen wird.
       
       Das ist auch ein Verdienst der Bremer Talentpflege. Die „Lucia“ ist bereits
       seine dritte große Oper hier, obwohl sein formidabler „Wozzeck“ 2016 leider
       das Haus leergespielt und auch Teile der örtlichen Kritik überfordert
       hatte. Eine Nominierung für den Theaterpreis gab’s trotzdem, ebenso wie für
       seine zweite Bremer Arbeit, die cool in den Raum projizierte „Damnation de
       Faust“ von Hector Berlioz.
       
       Seine Lucia, Premiere war am 28. Januar, ist noch besser, auch weil die
       kühnen Einfälle, wie ein quer durch den Raum gesungenes Streit-Duett
       zwischen Enrico ganz oben im Olymp und dem auf der Bühne zernichteten
       Edgardo mehr sind als bloß eindrucksvolle Nachweise der dirigentischen
       Kunst Olof Bomans und des fast blinden Verständnisses von Bariton Radde und
       Tenor Sandoval. Diese Special Effects ergeben sich geradezu zwangsläufig
       aus der letztlich feministischen Lesart, die Dittrich und Dramaturgin
       Caroline Scheidegger in Textbuch und Komposition des Werks freigelegt und
       in das Licht einer Zeit gehüllt haben, die TV-Serien wie „Game of Thrones“
       liebt.
       
       So gerät ihnen das traurige Spiel um Liebe und Tod zum erbitterten Kampf um
       – okay, dieses scheinbar dysfunktionale Requisit hatte das Originallibretto
       nicht vorgesehen – den Hammer der Macht, in dem, logisch, die Figur
       triumphieren wird, die sich aus dem Geschlechterkrieg heraushält.
       
       Des Priesters Raimondo Zweifelhaftigkeit, seine schönen Arien und seine
       scheinbar widersprüchlichen Ratschläge waren durch die Belcanto-Industrie
       lange geradezu systematisch getilgt worden: Man hatte ihn zum
       Herz-Jesu-Pfaffen runtergedimmt. Dittrich setzt ihm nun den Januskopf auf,
       und macht ihn zum eigentlichen Gegenspieler der Protagonistin und sogar
       ihres Bruders. Raimondo, der Peiniger und Befehlshaber der Fantasmen, wird
       den Untergang der Lammermoors zur Machtergreifung nutzen.
       
       ## Fantastisches Chordirigat
       
       Fast ist er schon am Ziel: Noch feiert und jubelt die große Gesellschaft,
       der Alice Meregaglias fantastisches Chordirigat eine fast schon bedrückende
       Homogenität verleiht: Sie feiert die unglückliche Hochzeit, die Raimondo
       arrangiert hat – bis er die Party sprengt und als einziger Zeuge die
       Bluttat verkündet. Und zugleich auch den Wahnsinn Lucias: Eine Zuschreibung
       ist der, scheinen Jana Findeklees wandhohe Videoprojektionen zu sagen, auf
       denen das Gesicht der Heroine durch Peinture-brut-Fratzen übermalt wird,
       immer wieder immer wieder, von unsichtbarer Hand.
       
       Aber es steht auch so im Text: „Infelice!“, singt Raimondo, „Della mente la
       virtude a lei mancò“, singt er, „Infelice, Infelice, della mente, la
       virtude a lei mancò“, immer wieder, die Unglückliche, die Unglückliche sie
       hat den Verstand verloren, den Verstand, den Verstand, verloren, verloren,
       futschikato. Bis es alle glauben und hoffen und flehen und priesterlich
       angeleitet beten, dass der Zorn des Himmels nicht über sie kommt.
       
       Und „Eccolà!“, da ist sie ja, ruft, mit schön eklig-selbstgefälligem Bass
       Christoph Heinrich. Und dann ertönt die Glasharmonika.
       
       2 Feb 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Benno Schirrmeister
       
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