# taz.de -- Opposition in Russland: Putins letzte Wahl
       
       > Putins Gegner Nawalny darf bei der Präsidentschaftswahl im März nicht
       > antreten. Doch die Jugend macht den Kreml zunehmend nervös.
       
 (IMG) Bild: Für einen Boykott der Präsidentschaftswahl: Proteste am Sonntag in Moskau
       
       Moskau taz | Ilja Jaschin ist noch sehr jung und doch schon ein Urgestein
       der russischen Opposition. Seit seiner Pubertät macht der heute 34-Jährige
       unermüdlich Politik. Er ist Vorsitzender der oppositionellen Bewegung
       Solidarnost, die der vor drei Jahren ermordete Oppositionelle Boris Nemzow
       einst gründete. Nemzow, der ehemalige russische Vizepremier, ist Jaschins
       Vorbild. „Nemzow war das Rückgrat der Opposition. Es ist ein Vakuum
       entstanden, das bisher nicht ausgefüllt werden konnte“, sagt Jaschin.
       
       Im Herbst errang Nachwuchspolitiker Jaschin einen beachtlichen Erfolg. Bei
       den Moskauer Lokalwahlen zog er mit sieben Abgeordneten in das Parlament im
       Bezirk Krasnoselski ein. Nur drei Mandate gingen an die Kremlpartei
       „Einiges Russland“. Der Bezirksrat wählten ihn zum Vorsitzenden.
       
       Jaschin ist jetzt ein kleiner „Natschalnik“ – ein Vorgesetzter, ein
       magisches russisches Wort – mit eigenem Büro und persönlichem Sekretär.
       „Ich kümmere mich um Hofbegrünung, tropfende Dächer und morsche Treppen“,
       lacht Jaschin, der als Agitator sonst größere Entwürfe im Munde führt.
       
       Irgendetwas irritiert im Büro des Vorgesetzten. „Es fehlt etwas“, klärt
       Jaschin auf. Die Porträts der großen Vorsitzenden, des russischen
       Präsidenten Wladimir Putin und des Moskauer Bürgermeisters Sergei Sobjanin,
       sie sind verschwunden. Eigentlich dürfen sie in keiner Amtsstube fehlen.
       
       ## John Wayne statt Wladimir Putin an der Bürowand
       
       Dort, wo sie sonst von der Wand grüßen, hängt jetzt ein Poster mit John
       Wayne als Sheriff. Bei der Auszählung der Stimmen am Wahltag im September
       hätte ihn eine ältere Mitarbeiterin belehrt: „Hier wird sich nicht mit
       Ellbogen auf die Tischplatte gestützt!“ Verdutzt hätte er geantwortet:
       „Jetzt ja, es gibt einen neuen Sheriff in der Stadt.“ Schanna Nemzowa,
       Boris Nemzows Tochter, hätte ihm das Poster daraufhin geschenkt.
       
       Jaschins erste Amtshandlungen könnte man populistisch nennen: Er strich
       Fahrer und Dienstwagen und den Anspruch auf Gehaltsfortzahlung für ein Jahr
       nach Ende des Mandats. Dafür richtete er Fahrdienste für Kranke und Rentner
       ein.
       
       Die große Linie verliert Jaschin dabei nicht aus dem Blick. Zusammen mit
       Alexei Nawalny hat er für diesen Sonntag zum landesweiten Streik
       aufgerufen. „Kein Wahlboykott, sondern ein aktiver Wählerstreik soll es
       sein“, sagt er. Auf diesen feinen Unterschied legt er Wert.
       
       Am 18. März wählt Russland einen Präsidenten. Wieder dürfte es der alte
       werden, WWP, Wladimir Wladimirowitsch Putin. Nawalny selbst wurde wegen
       einer Vorstrafe nicht als Kandidat zugelassen. Das Ziel ist, so scheint es,
       Putins Gegenspieler und Antikorruptionskämpfer im Stile eines Volkstribuns
       von der Politik fernzuhalten.
       
       Die Schikanen gegen den 41-jährigen Juristen nehmen kein Ende. Letzte Woche
       ließ das Justizministerium die Konten sperren, aus denen die laufenden
       Kosten von Nawalnys Kampagne bestritten werden. Am Sonntag kam er mal
       wieder in Haft – Nawalny und Mitstreiter verbrachten im letzten Jahr
       mehrere Wochen in Polizeigewahrsam. Die Büros in der Provinz werden
       regelmäßig durchsucht, Flyer und Materialien beschlagnahmt. Aktiven
       Schülern und Studenten drohen Uni- und Schulverweise. In Moskau musste ein
       Jugendlicher seine Schule verlassen, weil er in seinen Spitzenfächern über
       Nacht schlechte Noten erhielt.
       
       ## Putin nimmt den Namen Nawalny nicht in den Mund
       
       Die staatlichen Medien tun indes so, als gäbe es Alexei Nawalny nicht. Die
       Kremlriege scheint zu fürchten, den Namen des Gegenspielers auszusprechen.
       Kommt Präsident Putin nicht umhin, auf den ausgebooteten Herausforderer
       doch einmal einzugehen, versteigt er sich zu holprigen Formulierungen wie
       „die Person, von der Sie sprachen“. Russlands mächtigster Mann, der die
       Welt das Fürchten lehrt, spricht den Namen nicht aus, so, als fürchte er,
       sonst von bösen Geistern heimgesucht zu werden.
       
       Umso lebendiger ist der Oppositionelle in den Parallelwelten des Internets.
       Für die Jugend, die die staatlichen TV-Sender kaum noch erreichen, ist
       Nawalny eine feste Größe. Auch wenn ihm längst nicht alle blindlings
       folgen. Er ist ein anderes, frisches und jüngeres Gesicht, der es versteht,
       sie altersgerecht anzusprechen.
       
       Im März 2017 sendet Nawalny unerwartet Schockwellen durch Russland. Rund
       einhunderttausend fröhliche junge Demonstranten gehen für die Opposition im
       ganzen Land auf die Straße. Der Kreml lässt Hunderte von ihnen festnehmen.
       Die Protestler schreckt dies nicht ab. Im Juni folgt der nächste Streich.
       „Sie sind anders, nicht so gehorsam wie die Älteren, frecher“, sagt Jaschin
       über die Demonstranten. Im Juni ist er bei der nächsten Großdemonstration
       selbst festgenommen worden. „Ich war der Älteste in der Wanne“, sagt der
       34-Jährige. Das hätte es noch nie gegeben, meint er. Dennoch: Ob diese
       Generation politische Veränderung erzwingen wird? „Abwarten“, sagt Jaschin.
       
       ## Wird die Jugend überschätzt?
       
       Auch Walery Solowei reagiert nicht überschwänglich. Der 57-Jährige ist
       Professor für Geschichte an der diplomatischen Kaderschmiede MGIMO in
       Moskau, ein streitbarer und kritischer Intellektueller, groß und schlank.
       Bevor er an die Eliteuni wechselte, arbeitete er jahrelang bei der Stiftung
       Michail Gorbatschows, des letzten Generalsekretärs der KPdSU. Nebenher ist
       Solowei Berater des Präsidentschaftskandidaten der Partei des Wachstums,
       Boris Titow – ein Kandidat, der bestenfalls mit einem Prozent der Stimmen
       rechnen kann. Solowei rät dazu, den jugendlichen Protest nicht
       überzubewerten. Schon bei der nächsten Großveranstaltung im letzten Oktober
       sei die Welle der Unterstützung deutlich abgeebbt.
       
       Die Rolle der Jugend werde in einer überalternden Gesellschaft
       grundsätzlich überbewertet, meint Solowei. Russlands junge Generation könne
       zwar als Initiator auftreten, sie werde sich aber nicht als Kraft
       etablieren können, die Veränderungen stetig vorantreibt. Diese träten erst
       dann auf, wenn 35- bis 40-Jährige wie in der Ukraine oder Ägypten ans Ruder
       gelangen. Die Jugend falle zwar die Rolle einer Avantgarde zu. Sie ist aber
       unstet und geht auch nicht wählen. „Das mindert ihre Bedeutung“, sagt
       Solowei.
       
       Dennoch: Zum ersten Mal seit einem Vierteljahrhundert beobachten russische
       Soziologen einen neuen Trend. Das Verlangen der Bevölkerung nach Stabilität
       fällt geringer aus als der Wunsch nach Veränderung. Solowei rückt dies aber
       gleich zurecht: Unzufriedenheit ist vorhanden, der Wunsch nach Veränderung
       sei jedoch nicht radikal.
       
       ## An den eigenen Sieg glaubt niemand
       
       Ähnliche Schwingungen verspürt auch Wladimir Ryschkow. Seit Ende des
       Kommunismus zählte der ehemalige liberale Duma-Abgeordnete zu den
       demokratischen Aushängeschildern Russlands. Das Büro des 51-Jährigen liegt
       wie eh und je im selben Haus, in dem auch Boris Nemzow eine Wohnung besaß.
       Ryschkow hockte im Souterrain, Nemzow genoss freien Blick auf den Kreml. Um
       die Ecke liegen das Areal der Tretjakow-Gemäldegalerie und das beliebte
       Innenstadtviertel Pjatnizkaja mit Kneipen und angesagten Restaurants.
       
       Ryschkow ist heute immer noch aktiv, jedoch eher als Analytiker denn als
       politische Kraft. An der Moskauer Eliteuniversität, der Hochschule für
       Ökonomie, lehrt er mit dem Schwerpunkt Europäische Union, nebenher
       moderiert er im halbwegs unabhängigen Sender Echo Moskwy die eine oder
       andere Sendung. Für den Wahlkampf hat ihn der Vorsitzende der
       demokratischen Partei Jabloko, Grigori Jawlinski, darum gebeten, als Person
       seines Vertrauens aufzutreten. Wie fast alle anderen Bewerber außer
       Wladimir Putin darf Jawlinski wohl mit etwa einem Prozent rechnen.
       
       Das Motto lautet: Die Teilnahme ist Ehrensache. Bei den älteren Politikern
       spielt auch die Hoffnung noch mit, das Erbe für bessere Zeiten bewahren zu
       können. Ryschkow gesteht ein: „Es ist keine Zeit für größere Umbrüche.“
       Viele Menschen seien unzufrieden. „Autoritäre Systeme halten sich nicht nur
       wegen der Angst, die sie verbreiten, an der Macht, auch Erfolge spielen
       eine Rolle“, sagt er. Die Wirtschaft hinke zwar zurzeit und die Einnahmen
       sänken. „Aber unterm Strich sind die Einkommen in der Putin-Ära um das
       Dreifache gestiegen“, lautet sein nüchterner Befund. „Das Volk ist
       unzufrieden, vertraut dem Kremlchef aber und verbindet mit ihm nach wie vor
       die Hoffnung auf Verbesserungen.“ Schließlich hätte er sein Können unter
       Beweis gestellt.
       
       ## Der Neue soll nicht wie der Alte sein
       
       Auch Walery Solowei sieht es ähnlich. Für den Historiker wächst das
       Bedürfnis der Bevölkerung nach einem anderen Politiker. Man sei nach 18
       Jahren müde, der ewig gleichen Figur überdrüssig. Der Neue solle zwar nicht
       wie der Alte aussehen. In ihm müssten Putin und dessen Politik jedoch
       drinstecken, schmunzelt Solowei. Gleichwohl dürfe es aber sozialer und
       gerechter als bisher zugehen.
       
       Denn Russland ist wieder zu einer Armen-Gesellschaft geworden, in der nur
       noch 10 bis 15 Prozent zur Mittelschicht zählen. Paternalismus und soziale
       Sicherung sind daher wieder stärker gefragt.
       
       Ambitionen nach nationaler Selbstbehauptung und Würde konnte der Kreml
       zufriedenstellen, meint Solowei. „Das Maximum wurde erreicht, mehr will das
       russische Bewusstsein gar nicht. Kein Syrien, keine Ukraine, allein Geld
       wird noch verlangt!“ Sobald die Familienkasse das Lebensnotwendige nicht
       mehr garantiert, handelt der russische Bürger rational.
       
       Der neue Putin solle weder ein Geheimdienstler sein noch aus dem Militär
       stammen, geht aus Umfragen hervor. Uniformierte Kreise rufen Allergien
       hervor. Ähnlich war es schon einmal, unmittelbar nach dem Zusammenbruch des
       Kommunismus 1991.
       
       Auch die Elite begreift: Die Ära Putin neigt sich dem Ende zu. Sie verlangt
       sogar stärker nach einem Wechsel als der Durchschnittsbürger. Das geht aus
       unveröffentlichten Erhebungen hervor. Der Machttransit müsste langsam in
       Angriff genommen werden. Probleme, die der Gesellschaft unter den Nägeln
       brennen, wurden in den letzten Jahren nicht wirklich gelöst.
       Wirtschaftliche Schwierigkeiten und außenpolitischer Druck nehmen zu. „Die
       Mehrheit möchte mit den USA und Europa in Freundschaft leben“, sagt
       Ryschkow.
       
       ## Nach außen soll die Wahl sauber erscheinen
       
       Die Präsidentschaftswahlen schieben die strukturellen Probleme nur hinaus.
       Die Wahlen sollen aber sauber sein. Die Massenproteste bei den gefälschten
       Dumawahlen 2011 möchte man tunlichst vermeiden. Sauberkeit, Fairness und
       Transparenz sind angesagt. Ein bisschen nachgeholfen werden muss aber doch,
       um die gewünschten Ergebnisse zu erzielen.
       
       Eigentlich sollte die Putin-Wahl zu einem Putin-Referendum werden. Im
       Vorwahljahr zeichnete sich aber ein Wählerphlegma ab. Zwar lag Putin in
       Umfragen bei 80 Prozent Zustimmung. Das wirkte sich aber nicht ausreichend
       auf die Bereitschaft aus, an den Wahlen auch teilzunehmen. Das Ergebnis
       stünde ohnehin schon fest, war die häufige Begründung.
       
       Als gerade noch vertretbare Untermarke gab der Kreml die Zahl 70 zu 70 aus.
       70 Prozent Beteiligung bei 70 Prozent für Putin. Arithmetisch ergebe das
       eine vertretbare Summe. Knapp die Hälfte aller Wahlberechtigten würde sich
       für Putin entscheiden.
       
       Die Wähler scheinen unmotiviert. Warum sollen sie an diesem Volkslauf
       teilnehmen, dessen Gewinner bereits feststeht? Gerade Putins potenzielle
       Wähler müssen stimuliert werden, will man nicht zu viele „tote Seelen“
       beleben, die Schriftsteller Nikolai Gogol im 19. Jahrhundert schon als
       einträgliches Humankapital ins Spiel brachte. Die Totenregister schlagen
       bei Wahlen je nach Region mit 3 bis 7 Prozent zu Buche. Doch das ist
       „melotschi“, Kleinkram, wie der Russe sagt.
       
       Dabei ist die Ausgangssituation gar nicht so schlecht, erklärt Ryschkow. 43
       Prozent der Wahlberechtigten sind Rentner und von staatlichen Zahlungen
       abhängig, 20 Prozent der Wähler sind beim Staat angestellt. Um auf Nummer
       sicher zu gehen, reicht das indes auch noch nicht. Für die Jugend wird ein
       Selfie-Preis ausgelobt: „Mein schönstes Wahlfoto“. Die Buffets fahren in
       Sowjetmanier billige Leckereien auf, Blasmusiken spielen zum Tanz. In
       einigen Bezirken finden parallel Referenden statt, die die Bürger mehr
       interessieren dürften als die Präsidentschaftswahl. Eifrige
       Schuldirektoren, meist Mitglieder der Kremlpartei, regen Abstimmungen über
       neue Schuluniformen an. Wer will da daheim bleiben?
       
       Das staatliche TV-Programm hat sich auf die Wahl eingestellt.
       Beunruhigendes und Kontroverses wird aus den Nachrichten verbannt.
       Überfälle auf Schüler in der Provinz etwa mit schwer verletzten
       Jugendlichen und Lehrern werden verschwiegen. Es passt nicht zum
       Wohlfühlformat.
       
       ## Kandidaten-Attrappen sollen die Wahlbeteiligung erhöhen
       
       Und dann fährt der Kreml auch noch ein Dutzend Sparringpartner, sozusagen
       Kandidaten-Attrappen, für Wladimir Putin auf, um die Wahlbeteiligung
       anzukurbeln. Darunter ist auch die kesse Xenia Sobtschak, ein früheres
       Glamour Girl der jeunesse dorée, inzwischen aber auch Moderatorin und
       Journalistin, die im liberalen Wählerpotenzial Nawalnys fischen darf. Nach
       jahrelanger Verbannung als Kremlkritikerin kehrte sie in die staatlichen
       Fernsehsender zurück und darf Ungeheuerlichkeiten verbreiten: Russland habe
       bei der Annexion der Krim internationales Recht gebrochen. Anderen drohen
       dafür Haftstrafen. Jetzt lautet die Vorgabe: Landesverrat meinetwegen,
       Langeweile keinesfalls!
       
       Putin wird gewählt, aber er dürfte nicht mehr voll handlungsfähig sein,
       vermutet der Historiker Solowei. Für den Westen sei er als Partner zur
       Beilegung der Krise verbrannt.
       
       Die nächste Aufgabe könnte lauten: Wie wird man ihn los – ohne
       Verwerfungen?
       
       29 Jan 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Klaus-Helge Donath
       
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