# taz.de -- Russischer Botaniker und Genetiker: Von Stalin zum Tode verurteilt
       
       > Nikolai Iwanowitsch Wawilow hat mit seinem Konzept der
       > Mannigfaltigkeitszentren die Geschichte der Züchtungsforschung
       > beeinflusst.
       
 (IMG) Bild: Wawilow auf Expedition im Südkaukasus, einem der Genzentren der Kulturpflanzen
       
       St. Petersburg/Berlin taz | Weit weg, im sibirischen Omsk, zieren Reihen
       von Pyramidenpappeln mit dem Namen „N. I. Wawilow zum Gedächtnis“ das
       Stadtbild. Dass sie bei den extremen Temperaturen überhaupt dort wachsen,
       verdanken Sie dem russlanddeutschen Pflanzenzüchter Herbert Gense, und der
       wiederum erwarb das dazu nötige Wissen von ebenjenem Nikolai Iwanowitsch
       Wawilow (1887 bis 1943). Zu dessen 130. Geburtstag am 25. November richtet
       das Petersburger N. I. Wawilow-Institut für pflanzengenetische Ressourcen
       (VIR) in diesen Tagen eine internationale Konferenz aus. Denn bis heute ist
       der russische Botaniker und Genetiker eine herausragende Figur in der
       Wissenschaft, erst recht in Zeiten rasant schwindender Artenvielfalt auch
       unter den Nutzpflanzen. Er lebte freilich in unruhigen Zeiten, sein
       Aufstieg und Fall „könnten nur mit dem Stoff einer griechischen Tragödie
       verglichen werden“, wie es sein Sohn Juri einmal ausdrückte.
       
       Wawilow, der große Forschungsreisende, war noch der Enkel eines Bauern in
       Leibeigenschaft, der sein Dorf nicht verlassen durfte. Vater Iwan, bereits
       als Zehnjähriger zum Arbeiten nach Moskau geschickt, brachte es ohne
       Ausbildung und Kapital zum wohlhabenden Kompagnon einer großen Textilfirma.
       Seine beiden Söhne und zwei Töchter schlugen jedoch andere Wege ein – sie
       alle wurden Wissenschaftler.
       
       Mit Ausbruch der Revolution 1917 verlor der Vater sein gesamtes Vermögen
       und verließ das Land, während Wawilow im selben Jahr eine Professur an der
       Universität von Saratow antrat.
       
       1921 dann der Umzug nach Petrograd, dem heutigen Petersburg, wo er unter
       schwierigsten Bedingungen sein Institut aufbaute, mit der ersten und lange
       Zeit größten Genbank der Welt. Heute nimmt sie nach den USA, China und
       Indien mit 325.000 Akzessionen immer noch den 4. Platz ein.
       
       St. Petersburg, Isaakplatz: Wenn sich die schwere Holztür des alten Palais
       hinter einem schließt, taucht man ein in eine stille Welt des Sammelns und
       Forschens. Die jungen Wissenschaftlerinnen Galina Talowina und Sneschana
       Miftachowa, sichtlich stolz, an diesem traditionsreichen Ort arbeiten zu
       dürfen, führen durch die prächtigen Räume. Über einen imposanten
       Treppenaufgang geht es zur Getreidesammlung mit zigtausend Samentütchen in
       kleinen Metalldosen.
       
       ## Hungrige Mitarbeiter
       
       Heerscharen von Ratten und Mäusen fielen während der Leningrader Blockade
       darüber her. Die hungernden Mitarbeiter kämpften gegen die ebenso hungrigen
       Tiere, die schnell lernten, dass sich der Deckel der Blechdosen mit den
       Samen öffnete, wenn sie diese von den Regalen stießen. Viele der Forscher
       verloren in dem extrem harten Winter 1941/42 ihr Leben – inmitten von Reis,
       Erbsen, Mais und Getreide, das sie nicht anrührten, um Wawilows kostbare
       Sammlung zu bewahren.
       
       Heute sehen die Probleme anders aus. Immer wieder gab es Begehrlichkeiten
       nach den Immobilien des Instituts. Die prekäre finanzielle Situation wurde
       inzwischen verbessert, wenn auch ausgehend von einem sehr niedrigen Niveau.
       
       Dann Wawilows Arbeitszimmer mit den dunklen Holzmöbeln, fast so, als habe
       er es eben erst verlassen: Auf dem Kaminsims ein dünner, getrockneter
       Kürbis von mindestens 1 Meter Länge und darüber das Porträt von Charles
       Darwin. In den Büchervitrinen reihen sich die dicken, offensichtlich viel
       benutzten Bände des „Botanischen Jahresberichts“ aneinander.
       
       Von hier aus also korrespondierte er mit Kollegen aus aller Welt, die ihn
       wegen seines heiteren Wesens, seiner ansteckenden Energie und als
       interessanten Gesprächspartner schätzten. Seine großen Expeditionen über
       alle fünf Kontinente wurden hier geplant. Denn schon seine erste
       abenteuerliche Reise in den Iran 1916 hatte ihn auf eine heiße Spur
       gebracht, die er 1927 auf dem Internationalen Genetikerkongress in Berlin
       als die Genzentren oder Mannigfaltigkeitszentren der Kulturpflanzen
       vorstellte. Wawilows Genzentren werden zwar immer noch diskutiert und
       modifiziert, aber „sie haben heute noch ihre Gültigkeit, was auch
       Bestandteil meiner Lehre ist, obwohl sich nicht alle Arten eindeutig
       zuordnen lassen“, sagt Andreas Börner vom Leibniz-Institut für
       Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung (IPK) in Gatersleben, wo er den
       Bereich Management und Evaluierung der Genbank leitet, die im
       „Wawilow-Haus“ untergebracht ist.
       
       ## Der Umwelt ausgesetzt
       
       Um sie keimfähig zu erhalten, müssen die Samen alle drei Jahre ausgesät
       werden, um dann wieder „ex situ“ aufbewahrt zu werden. Heute kann dieser
       Aufwand durch verschiedene Kühlmethoden wie etwa der Kryokonservierung (mit
       flüssigem Stickstoff) reduziert werden. Diese Möglichkeiten hatte Wawilow
       noch nicht. In seinen vielen Zuchtstationen wurden die Pflanzen „in situ“
       sozusagen dem wirklichen Leben ausgesetzt, um so Resistenzen, Erträge und
       die Wirkungen von Umwelteinflüssen zu untersuchen und neue Sorten zu
       entwickeln, wie es auch heute in vielen Projekten gemacht wird.
       
       Auf solch einer Pflanzenzuchtstation des VIR in Gandscha, Aserbaidschan,
       nahm das Unheil seinen Lauf. Einem jungen Agronom war es dank eines sehr
       milden Winters gelungen, seine Erbsen während der kalten Jahreszeit am
       Leben zu erhalten. Daraufhin erschien ein euphorischer Artikel in der
       Prawda, wonach es das Verdienst dieses Trofim Lyssenko sei, dass das Vieh
       der einheimischen Bauern nun nicht mehr wegen schlechter Ernährung im
       Winter verenden würde. Die Sache wurde nicht weiter überprüft, und es
       begann der unglaubliche Aufstieg eines Scharlatans. Bald avancierte
       Lyssenko zu Stalins Liebling, versprach verzweigtes Getreide, reiche Ernten
       und dergleichen mehr. Er war genau das, was das System brauchte: Einer, der
       die Pflanzen durch Umwelteinflüsse „erzog“, wie der Kommunismus den
       Menschen. Mendels Vererbungslehre lehnte er ab und bestritt die Existenz
       von Genen überhaupt. Für Missernten gaben er und seine Anhänger
       „bourgeoisen“ Wissenschaftlern wie Wawilow die Schuld.
       
       Wawilow, der ihn anfangs noch gefördert hatte, erkannte die Gefahr zu spät.
       Er führte einen ebenso kompromiss- wie aussichtslosen Kampf gegen seine
       Widersacher. In dieser schwierigen Situation bemühte er sich um einen
       Termin bei Stalin, den er im November 1939 auch bekam.
       
       Stalin begrüßte den international renommierten Wissenschaftler wie einen
       Lausejungen: „Also Sie sind dieser Wawilow, der mit Blumen, Blättern,
       Sprösslingen und anderem botanischen Unsinn herumspielt, anstatt der
       Landwirtschaft zu helfen, so wie Akademiemitglied Lyssenko, Trofim
       Denissowitsch?!“ Zwar versuchte Wawilow, nachdem er sich gefangen hatte,
       eindringlich den Wert der Sammlung und die Arbeit des Instituts darzulegen
       – indes, er hätte genauso gut mit einer Wand reden können.
       
       ## Langsam verhungert
       
       Gut ein halbes Jahr später wurde er verhaftet. Im Juni 1941 überfiel die
       deutsche Armee die Sowjetunion. Kurz darauf, am 9. Juli 1941, wurde Wawilow
       wegen Sabotage und Spionage zum Tode verurteilt, später „begnadigt“. Am 26.
       Januar 1943 starb er, langsam verhungert – in der Stadt, in der er während
       seiner Anfangszeit so viel gegen die Hungersnot getan hatte.
       
       Im darauffolgenden Sommer machte sich das SS-Sammelkommando unter Leitung
       des Botanikers Heinz Brücher auf, um die Außenstationen mit den Beständen
       aus Wawilows Institut zu plündern, im Dienste der angestrebten
       „Selbstversorgung Deutschlands“.
       
       Mit der Zeit hatte man den hohen Wert der Genbanken erkannt. Ein
       uneingeschränktes Reisen und Sammeln wie zu Wawilows Zeiten ist endgültig
       vorbei. Vor allem China, Indien und Iran schotten sich ab, versenden auch
       keine Proben, wie sie von den Genbanken in Russland und Deutschland jeder
       bekommen kann.
       
       Letztlich ginge es, so Nikolai I. Dsjubenko, der heutige Direktor des
       Wawilow-Instituts, um den Erhalt der genetischen Vielfalt von
       Kulturpflanzen und ihren wilden Verwandten weltweit für zukünftige
       Generationen auf der Grundlage internationaler Kooperation. Nötig sei
       außerdem die Einrichtung eines weltweit identifizierten genetischen
       Bestandes für die Züchtung verschiedener Zuchtsorten, um das Problem der
       Ernährungssicherheit unter den Bedingungen eines möglichen weltweiten und
       regionalen Klimawandels lösen zu können.
       
       Von den weltweit 1.700 Genbanken befinden sich 11 in Wawilows Genzentren,
       moderne Methoden erleichtern die Arbeit der Sammlungen erheblich und ihre
       Backups lagern im Samentresor auf Spitzbergen, erzählt Elena Popowa vom
       Crop Trust in Bonn. Wawilow wäre begeistert.
       
       23 Nov 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Eva-Maria Brandstädter
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Biodiversität
 (DIR) Permafrost
 (DIR) Memorial
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Tiefgekühlte Schätze im Permafrost: Analoges Archiv für digitale Daten
       
       In der „Kohlengrube Nummer 3“ auf der Arktisinsel Spitzbergen entsteht ein
       Datenarchiv. Die Daten sollen in 1.000 Jahren noch lesbar sein
       
 (DIR) Nachruf auf Arseni Roginski: Ein ganzes Leben mit Stalin
       
       Der Historiker und Menschenrechtler saß selbst in Lagerhaft. Er verschrieb
       sich der Aufarbeitung der sowjetischen Diktatur.
       
 (DIR) Gendatenbank für die Färöer: So schön homogen
       
       Auf den Färöern sollen die Genome aller Bewohner in eine Gendatenbank
       aufgenommen werden. Damit soll die Gesundheitsversorgung verbessert werden.
       
 (DIR) Wawilow-Institut in St. Petersburg: Saatgutsammlung von Baggern bedroht
       
       Auf dem Land der großen russischen Samen- und Pflanzenbank, dem
       Wawilow-Institut in St. Petersburg, sollen Wohnhäuser gebaut werden.
       
 (DIR) Globale Saatgutbank in Spitzbergen: Arche Noah der Neuzeit
       
       Die größte Genbank der Welt entsteht: Auf minus 18 Grad werden die
       wichtigsten Pflanzen vor Krieg und Epidemien geschützt werden - für die
       Ewigkeit.