# taz.de -- Kinostart des Thrillers „Good Time“: Einfach nur großer Bruder sein
       
       > Geschwisterliebe ist ein starkes Motiv: In ihrem Thriller „Good Time“
       > haben sie die Regisseure Joshua und Ben Safdie gut versteckt.
       
 (IMG) Bild: Robert Pattinson als Connie Nikas
       
       Eine der berührendsten Szenen in „Gilbert Grape – Irgendwo in Iowa“ (1993)
       ist die, in der Johnny Depp alias Gilbert Grape seinen kognitiv
       gehandicapten Bruder Arnie (Leonardo DiCaprio) in der Badewanne vergisst,
       weil unerwartet ein Mädchen in sein Leben tritt. Als er den ausgekühlten,
       zitternden Arnie Stunden später aus dem Wasser zieht, sieht man Gilbert das
       schlechte Gewissen an, fühlt seine Zerknirschtheit – und die Liebe, die er
       seinem Bruder entgegenbringt.
       
       Es ist eben schwierig, wenn man zwischen Verantwortung und Drang
       festklemmt. Connie Nikas (Robert Pattinson) will nun im Thriller „Good
       Time“ ebenfalls nur das Beste für seinen Bruder Nick (Regisseur Ben
       Safdie), dessen Sprache undeutlich ist und der trotz Hörgerät kaum etwas
       von der Welt versteht. Nach Ansicht des permanent abgebrannten Connie kann
       ihnen beiden nur eine Sache helfen – und zwar besser als jede Therapie.
       Also überfällt er gemeinsam mit Nick eine Bank in New York.
       
       Doch die Kassiererin hat den tapsigen Neu-Gangstern mit den dicken
       schwarzen Gummimasken nicht nur das geforderte Geld, sondern unbemerkt auch
       noch ein Alarmpaket in die Tüte geschoben. Als das Päckchen im Auto
       explodiert und sowohl die Brüder als auch die Scheine rot markiert, steht
       Nick, dem schon die Maske und die Aufregung beim Überfall stark zusetzten,
       vor einer Panik. Er wird kurz darauf bei einer unkoordinierten Flucht von
       der Polizei gefasst und ins Gefängnis verlegt; Connie dagegen kann abhauen
       – und wird fortan versuchen, auf dem schnellsten Weg 10.000 Dollar
       aufzutreiben, um Nick gegen Kaution herauszuholen. Denn was seinen geistig
       gehandicapten Bruder im Knast erwartet, das weiß er und erträgt es nicht.
       
       Geschwisterliebe ist ein starkes Motiv. Die Regisseure Ben und Josh Safdie
       haben sie sorgfältig versteckt: In Pattinsons gequältem Gesichtsausdruck;
       hinter der Ruppigkeit, mit der er seinen Bruder zu Anfang aus einem
       Therapiegespräch schleift; in der trotzigen Energie, mit der Connie eine
       irre Nacht lang von Verzweiflung zur Hoffnung und wieder zurück stolpert.
       
       Das Motiv treibt Connie durch die Straßen, in absurd komische Situationen –
       wenn er etwa ein junges schwarzes Mädchen, dessen Oma ihm Obdach gewährt,
       aus heiterem Himmel küsst, um sie vom Crime-Geschehen abzulenken. Und in
       hoffnungslos gewalthaltige Szenerien, bei denen Menschen zu Schaden kommen.
       
       ## Grenzen des Mitgefühls
       
       Pattinsons Physis, die immer ein bisschen weich wirkt, ergibt zusammen mit
       den desperaten Ausbrüchen und den vielen Schnapsideen einen ambivalenten
       und darum spannenden Charakter: Er übernimmt Verantwortung für einen
       Menschen, aber hält sich kein bisschen an die Regeln aller anderen.
       
       Um seinem Bruder zu helfen, lügt und betrügt, verführt, stiehlt und schlägt
       er. In einer brutalen Sequenz prügelt Connie den unschuldigen Nachtwächter
       eines Vergnügungsparks krankenhausreif – eine Szene, die die Grenzen des
       Zuschauer-Mitgefühls austesten soll: Kann, darf, will man wirklich
       weiterhin auf der Seite eines so gewalttätigen Protagonisten stehen? Der
       Hauptdarsteller, der typische Rehaugen-Liebhaber-Rollenvorschläge
       anscheinend seit Jahren mit Verve in die Ecke feuert und sich dennoch
       weniger weit von seinem „Twilight“-Image entfernen konnte als seine
       ehemalige Film- und Lebenspartnerin Kristen Stewart, geht mit diesem Film
       noch einen Schritt in Richtung Unabhängigkeit: Den durch lange Straßenjahre
       gezeichneten, rabiat-brüchigen Underdog spielt Pattinson einwandfrei.
       
       Die aus New York stammenden und dem Independent-Kino verhafteten
       Safdie-Brüder erzählen in ihrem dritten Langspielfilm mit wackeliger
       Handkamera und in verwischt-atmosphärischen Dunkelbildern ein Drama voller
       Leid, Wut und Energie – und erstaunlicherweise auch voller Komik, die
       situativ entsteht, durch Verwechslungen, Missverständnisse und
       lakonisch-authentische Nebenfiguren. Elegant lassen sie stark gespielte
       Charaktere wie Connies psychisch labile Freundin Corey (Jennifer Jason
       Leigh), die ihm Geld leihen soll, auf- und schnell wieder abtauchen, und
       scheren sich weniger um Moral als vielmehr um Plausibilität.
       
       Behutsam und kitschfrei zeigen Joshua und Ben Safdie zudem ganz nebenbei
       die Unterschiede der Milieus; die versteckte, aber verlässliche Solidarität
       der Armen im unbarmherzigen Stadt-Moloch: Wirkliche Hilfe, so scheint es
       jedenfalls lange Zeit, findet der Protagonist nur bei den ebenfalls
       Ausgestoßenen – den Bewohner*innen der Stadt, die sich kein Taxi vom
       Krankenhaus nach Hause leisten können und mit dem „Social Worker“-Bus in
       ihr mit Trash vollgestopftes, vom Fernseher erleuchtetes Loch in Queens
       zurückgekarrt werden.
       
       ## Vehemenz der Indies
       
       Die mit puertoricanischem Akzent sprechende alte Lady, die Connie die Tür
       öffnet und sich alsbald mit Tabletten zum Schlafen zurückzieht, ist die
       abgeklärte Variante einer guten Fee. Ihre Enkelin, das junge schwarze
       Mädchen, das sich über gar nichts wundert, ist eine weitere. Corey, Connies
       Psychofreundin, hatte ebenfalls Hilfe im Sinn, ist jedoch selbst so kaputt,
       dass sie bei der Jagd schnell auf der Strecke bleibt.
       
       Zum Trip passend hat der New Yorker Experimentalmusiker Daniel Lopatin
       alias Oneohtrix Point Never, der auf dem britischen Warp-Label
       veröffentlicht, einen Score komponiert, der dem Film psychedelische
       „Tangerine Dream“-Momente beschert: Er setzt retroelektronische Akzente,
       die an Vangelis’ beeindruckenden Score für den 1982er „Blade Runner“ oder
       Brad Fiedels Ideen für „Terminator“ zwei Jahre später erinnern, und
       konterkariert damit die hoffnungslos-analoge Flucht-und-such-Situation, in
       der sich Nick befindet – und die in ihrer Atemlosigkeit und dem nächtlichen
       Setting ein wenig an die rasante, brillant ausgeführte One-Take-Hatz in
       Sebastian Schippers „Victoria“ erinnert. Beim Filmfestival von Cannes, wo
       „Good Time“ im Mai für die Goldene Palme nominiert war, wurde Lopatin dafür
       der „Soundtrack Award“ verliehen.
       
       Das Drehbuch von Joshua Safdie und Ronald Bronstein lässt trotz
       altbekannter Genre-Ideen (schief gelaufener Banküberfall, Zeitdruck), die
       die Geschichte dramaturgisch wie eine Mauer abstützen, nicht vorausahnen,
       was passiert – geht es gut aus, und wenn ja, für wen? Und was bedeutet in
       dem Zusammenhang „gut“?
       
       ## Wenig Geld und viel Dringlichkeit
       
       Seine Vielschichtigkeit ist – nach Filmen wie dem per Handy gefilmten
       queeren Drama „Tangerine L.A.“ und Andrea Arnolds flirrendem Outcast-Stück
       „American Honey“ – ein weiterer Beweis für die Vehemenz, mit der sich die
       US-amerikanische Independentszene mit wenig Geld und viel Dringlichkeit
       neben den üblichen Dramen zu behaupten vermag.
       
       Was thematisch ähnliche Filme mit Underdog-Helden, die erbarmungslos die
       Fäuste fliegen lassen, oft falsch machen, haben die beiden Regisseure
       beachtet: Sie setzen nicht auf coole Sprüche und kaum auf die Faszination
       der performativen Gewalt im Actiongenre. Stattdessen lassen sie ihren
       Helden einfach nur großer Bruder sein. Und das ist – in diesem Fall –
       schlichtweg mitreißend genug.
       
       1 Nov 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jenni Zylka
       
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