# taz.de -- Patataz: Eine sogenannte Kolumne
       
       > Vielleicht bereiten die regierungsnahen Medien in der Türkei die
       > Menschheit gerade langsam darauf vor, dass nichts real ist?
       
 (IMG) Bild: „Matrix“-Schauspieler oder Vertreter regierungsnaher Medien?
       
       Als Kind präsentierten die Moderatoren in den Hauptnachrichten das
       Konzentrat sämtlicher Ernsthaftigkeiten der ganzen Welt. So hörte ich das
       erste Mal bei diesen ernsten Moderatoren dies: „der sogenannte Völkermord
       an den Armeniern“.
       
       In meiner kindlichen Fantasie stellte ich mir erst vor, dass die Armenier
       gar nicht Armenier sind, sondern “sogenannte Armenier“, aber es dauerte
       nicht lange und ich wusste, das eigetnlich der Völkermord mit dem
       “sogenannt“ bezeichnet wurde. Just zu dieser Zeit brachte ein neunmalkluger
       Schwätzer ein, dass wenn man „Ex-Staatsminister“ sagt, es sich so anhöre,
       als ob man meine, dass der Staat „ex“ wäre. Deshalb solle man doch
       „Staats-Ex-Minister“ sagen, was dann auch die Sprecher des staatlichen
       Senders TRT veranlasste, in diese Wortkonstruktionen weitere Beiwörter zu
       stopfen. Ich weiß allerdings nicht, warum sie nicht auch „Der Armenier ihr
       sogenannter Völkermord“ sagten.
       
       Also: Es gab keinen Völkermord an den Armeniern. Die Armenier wurden nicht
       in Massen umgebracht, sondern wurden nur massenhaft vertrieben. Auch wenn
       einige Armenier umgebracht wurden, kamen doch nicht sooo viele ums Leben.
       Und wenn so viele Armenier gestorben waren, wie sie immer behaupteten, dann
       sollte man sich doch bitteschön angucken, was die erst alles gemacht
       hatten, damals. Und wenn nicht alle etwas angestellt hatten, dann konnte
       man ja nie wissen, ob sie es nicht vorhatten?
       
       Und überhaupt: immer wurden wir als Türken benachteiligt, bei
       Nationalspielen war der Schiri immer gegen uns, und beim Eurovision Song
       Contest gaben sich die befreundeten Staaten gegenseitig Punkte und uns
       keine. Nur kam keiner auf die Idee, den Eurovision Song Contest mit
       „sogenannt“ zu bezeichnen. Dieses „sogenannt“ tauchte lange Zeit nur beim
       Völkermord an den Armeniern auf.
       
       ## Inflationärer Gebrauch des Wörtchens
       
       Bis, ja bis einige kurdische Organisationen 1995 in Europa ein Parlament
       gründeten. Natürlich konnte es kein Kurdisches Parlament geben. Außerdem
       hatten wir gerade verdaut, dass die Kurden ein eigenes Volk sind – und
       keine Türken – , da konnten wir nicht zuschauen, dass es sie jetzt auch
       noch im eigenen Parlament tagten. Somit tauchte in den Hauptnachrichten die
       Bezeichnung „sogenanntes Kurdisches Parlament“ auf.
       
       „Sogenannt“- das Wörtchen wurde in den letzten Jahren inflationär
       verwendet. Passt der Regierung und dem Regierenden etwas nicht, wird
       einfach vor die betreffende Bezeichnung ein „sogenannt“ geschoben. Und
       schwupps sind es dann „sogenannte Akademiker“, die die Regierung
       kritisieren. Künstler, die der Regierung missfallen, sind „sogenannte
       Künstler“. Menschenrechtsvereinigungen, die ihnen nicht in den Kram passen,
       sie ahnen es, heißen „sogenannte Menschenrechtsverteidiger“.
       
       Mit diesem „sogenannt“ übertrieben sie es aber ein wenig, als die PKK ihren
       Gründungstag feierte und es hieß, dass sie ihren „sogenannten Gründungstag“
       feierten: bedeutete das jetzt, dass die PKK als terroristische Organisation
       nicht existierte oder dass der Gründungstag schlicht ein anderer war? Keine
       Ahnung.
       
       ## Alle bekommen ihr Fett weg
       
       Dieses „sogenannt“ wurde mit der Zeit plumper und tat weh. Trauernde
       Menschen, die ihre Söhne oder Verwandten während des Militärdienstes
       verloren hatten und ihre Wut darüber bei den Begräbnissen äußerten, wurden
       als „sogenannte Verwandte der Märtyrer“ bezeichnet. Die Kinder der
       Politiker blieben mit allen verfügbaren Mitteln dem Pflichtdienst beim
       Militär fern. Aber trotzdem konnten die Politiker die trauernden Menschen
       als „sogenannte Angehörige von Märtyrern“ verunglimpfen und damit
       davonkommen.
       
       Unsere internationalen Beziehungen bekamen ebenfalls ihr Fett weg.
       Bisherige Alliierte der Türkei wurden von einem Tag auf den anderen durch
       Erdoğan als „sogenannte Alliierte“ bezeichnet. Wie im Falle Ägyptens: die
       Macht, die sich per Putsch der Gewaltherrschaft der Muslimbrüder
       entledigte, um ihre eigene Gewaltherrschaft aufzubauen, hieß dann als
       „sogenannte Regierung Ägyptens“.
       
       Wie konnte beispielsweise der Anführer der größten Oppositionspartei einen
       Marsch für Gerechtigkeit anführen, wenn „sogenannte Parlamentarier“ und
       „sogenannte Journalisten“ im Gefängnis saßen? Der staatliche Fernsehsender
       bezeichnete diesen Marsch als „sogenannten Marsch für Gerechtigkeit“. Und
       die „sogenannten Juristen“ verteidigten ohne Schamesröte im Gesicht die
       Inhaftierten.
       
       ## Akademiker, Politiker, Imame
       
       Die Academics for Peace, die die Petition „Wir werden nicht Teil dieses
       Verbrechens sein“ (gegen die Militäroffensive der türkischen Streitkräfte
       in den südöstlichen Gebieten Anfang 2015, Anm. d. Red.) wurden dann auch in
       den regierungsnahen Zeitungen als „sogenannte Akademiker“ bezeichnet. Für
       Recep Tayyip Erdoğan waren alle, die gegen ihn waren, entweder „sogenannte
       Akademiker“ oder „sogenannte Politiker“.
       
       Und natürlich wurden ungetreue Religionsmänner zu „sogenannten Imamen“. Vor
       allem die von der Gülen-Bewegung, die seit Jahren schon ihre Getreuen in
       die Schlüsselpositionen innerhalb des Staatsapparates hievte und die sich
       vor allem während der AKP-Regierung bereicherten.
       
       Doch am meisten bekamen die Kurden das Wörtchen „sogenannt“ vorgesetzt. Die
       HDP in Diyarbakır stellte einen Mufti für die Wahl zum Abgeordneten auf.
       Erdoğan musste natürlich betonen, dass die HDP ebenfalls Homosexuelle
       aufstellte, und verriet im gleichen Atemzug, dass der Mufti nur ein
       „sogenannter Mufti“ sein kann.
       
       ## Lustigerweise sind es nicht nur die Erdoğan-Medien
       
       Einerseits ein Mann der Religion, ein Mufti, und dann noch für eine
       Oppositionspartei kandidieren, wo gibt’s denn sowas? Auch die Judikative
       konnte die Kurden nur dann als wahre Kurden sehen, die der Regierungspartei
       ihre Stimme gaben. Der Rest waren „sogenannte Kurden“, wie kurdische,
       inhaftierte Politiker in den Anklageschriften genannt wurden.
       
       Und Erdoğan wollte die Kantone, die die PYD in Syrien errichtete, und die
       nebenbei auch noch die stärkste Schlagkraft gegen die dortigen IS-Truppen
       boten, nicht anerkennen. Weil: „Wir erkennen keinen sogenannten Staat an“.
       Also einen Staat konnten sie eh nicht gründen, auch nicht einen sogenannten
       Staat, und dem hätten sie auch nicht zugestimmt.
       
       Betrachtet man das Referendum der Kurden zur Unabhängigkeit in Nordirak
       unter diesen Aspekt, kann man leicht erraten, wie der „Meister/Reis“ und
       die Medien des „Reis“ dazu schrieben und sagten. Lustigerweise sind es
       nicht nur die Erdoğan-Medien. Auch opponierende Zeitungen, die aber den
       Kurden ferner sind, als es Erdoğan je war, vertreten die gleiche Meinung.
       
       ## Nur ein Fehler in der Matrix?
       
       Das Referendum ist ein „sogenanntes Referendum“, die Karte, die den Staat
       zeigt, der sich aus dem Referendum zur Unabhängigkeit konstituiert und
       seine Grenzen werden in einer „sogenannten Karte“ festgehalten, der
       ausschlaggebende Grund des Referendums wird als „sogenannter
       Unabhängigkeit“ und der Staat als „sogenannter Kurdenstaat“ betitelt.
       Letzendlich haben „sogenannte“ 92% der Bevölkerung der Unabhängigkeit
       zugestimmt. Ob die verbleibenden 8% „sogenannte“ Nein-Sager sind oder
       nicht, mag ich gar nicht beantworten.
       
       Einerseits kann das ja auch alles wahr sein. [1][Es gibt Technokraten, die
       glauben, dass alles, wir erleben, eine Simulation ist.] Und es gibt
       Wissenschaftler, die glauben, [2][dass wir in einer „sogenannten Universum“
       leben, wie in dem Film „Matrix“]. Vielleicht haben sie ja recht, und die
       ersten, die es bemerkt haben, sind der Reis und sein Mediengefolge.
       
       Vielleicht bereiten sie die Menschheit nur langsam darauf vor, dass nichts
       real ist, und das die Welt und das Universum, in dem wir uns befinden, nur
       einer „sogenannten Wirklichkeit“ angehören. Natürlich kann ich solch eine
       tiefer gehende Wahrheit als „sogenannter Autor“ nur schwer begreifen.
       
       1 Oct 2017
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.theverge.com/2016/6/2/11837874/elon-musk-says-odds-living-in-simulation
 (DIR) [2] https://www.scientificamerican.com/article/are-we-living-in-a-computer-simulation/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Baris Uygur
 (DIR) Barış Uygur
       
       ## TAGS
       
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