# taz.de -- Debatte Ausgang der Bundestagswahl: Die Quadratur der Merkel
       
       > Sieben Gründe, warum die Kanzlerin wahrscheinlich wieder klar gewinnen
       > wird – und wieso wir trotzdem wählen gehen müssen.
       
 (IMG) Bild: Je schlimmer die anderen auftreten, desto sanfter und liebenswürdiger erscheint Merkel
       
       Wir alle spüren, nein, wir wissen: So kann es nicht weitergehen. Unsere
       Autos verpesten die Luft, unsere Reichen werden immer reicher, viele Arme
       ärmer, und die meisten leben ohne große Rücksicht auf den Rest der Welt,
       die auch deshalb von einer Krise in die nächste taumelt. Unsere Regierung
       tut viel zu wenig, um diese bedrohlichen Entwicklungen zu stoppen. Warum
       zum Teufel gibt es trotzdem keine Wechselstimmung?
       
       Sieben Gründe:
       
       1. Die wirtschaftliche Lage. Uns geht es zu gut, um alles umwerfen zu
       wollen. Das heißt: Den meisten kommt es jedenfalls so vor. Die
       Arbeitslosigkeit sinkt, die Mehrheit bekundet laut dem ARD-Deutschlandtrend
       August Zufriedenheit mit ihrer Lage – und gerade einmal 9 Prozent der
       Deutschen nennen die soziale Ungleichheit als wichtigstes Problem. Da haben
       es alle schwer, die einen Regierungswechsel herbeiführen wollen.
       
       2. Der internationale Vergleich. Selbst die Deutschen, die jeden Cent
       umdrehen müssen, stellen in jeder „Tagesschau“ fest: Weltweit betrachtet
       geht es auch ihnen gut. Sie haben zwar weniger Geld als ihre reichen
       Mitbürger, aber eben auch viel mehr soziale Sicherheit und Freiheit als die
       Menschen in den allermeisten Ländern, die von unseren Verhältnissen nur
       träumen können – und deshalb auch in nicht geringer Zahl versuchen, nach
       Deutschland zu fliehen oder einzuwandern. Auch das ist ein Ergebnis der
       vielen Flüchtlingsdebatten: Bei allen Kontroversen spüren doch die meisten
       auch, wie gut es uns hier geht. Das Glück darüber scheint größer zu sein
       als das schlechte Gewissen.
       
       3. Die Person Angela Merkel. Wir haben eine Kanzlerin, die weder dumm noch
       derb noch diktatorisch handelt. Das sollte selbstverständlich sein, ist es
       aber nicht mehr, seit Gestalten wie Trump, Erdoğan, Orbán und Putin die
       Weltpolitik auch im Westen dominieren. Je schlimmer die anderen auftreten,
       desto sanfter und liebenswürdiger erscheint dagegen Merkel. Auch im
       Vergleich zu ihrem Amtsvorgänger von der SPD wirkt sie wertegebunden und
       bescheiden.
       
       4. Die Methode Merkel. Die Kanzlerin ist eine demokratische Populistin.
       Solange die Veränderungswünsche diffus und widersprüchlich bleiben, hält
       sie sich raus. Sobald eine Forderung eindeutig Mehrheitswille wird, sorgt
       Merkel aber schnell dafür, dass der Wille des Volkes bald geschehe. Dabei
       klaut die Kanzlerin und CDU-Vorsitzende hemmungslos bei anderen Parteien
       und ändert notfalls blitzschnell ihre Meinung. So geschehen beim
       Atomausstieg nach Fukushima, beim Mindestlohn und zuletzt bei der
       Entscheidung, die Ehe für alle zuzulassen. Das ist natürlich
       opportunistisch. Aber wäre uns stattdessen eine Kanzlerin lieber, die den
       Mehrheitswillen ignoriert und stur auf einmal getroffenen Entscheidungen
       beharrt?
       
       5. Die Zickzack-Merkel. Ja, auch in der Flüchtlingspolitik folgt Merkel im
       Großen und Ganzen den Gefühlen der Mehrheit. Die meisten begrüßten ihre
       mutige Nicht-Grenzschließung im Jahr 2015, die meisten sprachen sich aber
       kurz danach auch wieder dafür aus, das gefühlte Chaos zu beenden und
       Maßnahmen zur Begrenzung einzuleiten. Tür auf, Tür zu, je nach Situation
       entscheiden – ein anderes praktikables Konzept haben auch Merkels Gegner
       bisher nicht gefunden. Und sosehr man die aktuelle Härte bedauern muss:
       Auch die meisten Bürger sind in dieser Frage hin- und hergerissen. Selbst
       den schärfsten Kritikern der Abschottung ist klar, dass Merkel europaweit
       lange am offensten gehandelt hat. Mit Abstand. An flüchtlingsfreundlichere
       Entscheidungen einer SPD-geführten Regierung glaubt kaum jemand.
       
       6. Die Merkel-Gegner. Womit wir bei Martin Schulz wären. Was er versucht,
       ist die Quadratur des Kreises. Um die Dringlichkeit einer Merkel-Abwahl zu
       begründen, müsste er das Land so richtig schlechtreden. Wenn er das aber
       täte, dann folgte sofort die logische Replik: Die SPD regiert doch mit,
       also ist sie doch mit schuld! Aus der Regierung heraus die Regierung
       stürzen, das ist ein fast unmögliches Unterfangen. Echte Chancen, einen
       linken Gegenentwurf durchzusetzen, gibt es frühestens dann wieder, wenn die
       SPD aus der Opposition angreifen kann – und eigentlich auch erst dann, wenn
       Merkel von rechten Ideologen in der CDU abgelöst wird und die CDU wieder
       genug Angriffsflächen bietet.
       
       7. Wir selbst. Wer die ausbleibenden Maßnahmen gegen den Klimawandel und
       die Ungerechtigkeit in der Welt beklagt, muss sich fragen: Wozu bin ich
       bereit? Verzichte ich auf den nächsten Fuerteventura-Flug? Kaufe ich bei
       H&M, obwohl ich mir auch fairer produzierte Produkte leisten könnte? Würde
       ich auf Geld verzichten, damit auch andere Arbeit oder Zuflucht finden? Wer
       da zögert, darf sich nicht wundern, dass ein radikaler Wandel ausbleibt.
       
       ## Wir haben viel zu verlieren
       
       Ist es also sinnlos, sich noch für Politik zu interessieren, weil am Ende
       eh die Bequemlichkeit siegt und Merkel gewinnt? Mitnichten! Nie war es
       wichtiger, sich für konkrete Ziele einzusetzen. Und in kaum einem Land gibt
       es größere Freiheiten und Chancen, diese auch zu erreichen. Fast egal, ob
       eine Merkel-CDU oder eine Schulz-SPD regiert. Entscheidend ist, dass sich
       genug Leute engagieren und Protestaktionen unterstützen. Dann kann es
       klappen mit dem Druck auf Berlin. Dann kommt nach dem Atomausstieg der
       Kohleausstieg. Dann kommt nach der Willkommenskultur 2015 vielleicht ein
       neuer Versuch, ein liberaleres Einwanderungsrecht einzuführen und die
       Fluchtursachen endlich ernsthaft zu bekämpfen.
       
       All das passiert jedoch gewiss nicht, wenn wir jetzt vor lauter Langeweile
       gar nicht wählen. Sosehr die mangelnden Unterschiede zwischen Schulz und
       Merkel abtörnen: Es ist eben nicht egal, ob die FDP, die Grünen oder die
       Linkspartei zulegen, denn es hat Einfluss auf die Politik der mutmaßlichen
       Wahlsiegerin.
       
       Vor allem aber dürfen wir nicht zulassen, dass unsere Wahlmüdigkeit zu
       einem Wahlerfolg der Rechtsradikalen führt. Dafür haben wir alle
       miteinander zu viel zu verlieren: die Freiheit, weiter mühsam für
       Fortschritte zu kämpfen.
       
       3 Sep 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Lukas Wallraff
       
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