# taz.de -- Festival Atonal in Berlin: Luftgitarren statt Teufelsaustreibung
       
       > Fünf Tage experimentelle Klänge gab es beim „Berlin Atonal“-Festival.
       > Fazit: Zu viel Überwältigungsästhetik, leider zulasten von Camp.
       
 (IMG) Bild: Begegnung im Nebel des Kraftwerks Berlin
       
       Das „Berlin Atonal“ hat seine Ursprünge in den frühen 1980ern, als im SO36
       wegweisende KünstlerInnen der Industrial- und Noise-Szene zusammenkamen:
       Internationale, aber auch die herausragenden Vertreter der lokalen Szene,
       die aus den spielerischen Tagen hinausgewachsen waren.
       
       Das Szenekompendium „Geniale Dilletanten“ erschien seinerzeit bei Merve,
       einem Verlag, wo Co-Verleger Peter Gente zugleich eine Reproduktion von
       Hitlers Lieblingsgemälde, Böcklins „Toteninsel“, an die Wand hängen konnte
       und trotzdem Bücher veröffentlichte, die einer tatsächlich
       antifaschistischen Sprache auf der Spur waren.
       
       Westberlin wusste um diese Spannung, vom Reiz und der Notwendigkeit der
       Überwindung des Faschismus. Und die Bands, die seinerzeit auftraten,
       spielten bewusst in solchen Zwischenräumen, Teufelsaustreibungen und
       -beschwörungen zugleich.
       
       1990, ein Jahr nach der Wende, fand es zum vorläufig letzten Mal statt,
       2013 erstand das Festival wieder neu auf, und zwar im Komplex des
       Kraftwerks an der Köpenicker Straße, sonst Heimat der Clubs Tresor und OHM.
       Blanker Beton und absolute Grandezza bestimmen die riesige Halle, ein Raum,
       der einfach Raum ist und dadurch unendlich bespielbar durch Visuals,
       Lichtführung und nicht zuletzt Sound.
       
       ## Industrial zweiter Ordnung
       
       Der Raum, aber auch seine Größe ziehen beinahe zwangsläufig das Sakrale,
       Große an, eine Falle, der hier nicht alle Acts entgehen konnten. Beinahe
       zwangsläufig wirkt das Festival so dichotom: Unten, im OHM, wuseln
       rhizomatische Sounds, oben regieren Ordnung und Macht.
       
       Zur Eröffnung der Hauptbühne am Mittwoch reproduzierte Kathinka Pasveer das
       raumklangliche Stück „Oktophonie“ von Karlheinz Stockhausen als
       monolithische Messe, während unten die junge DJ Tutu aus
       Friedhofsvogelgezwitscher, Schellackplattenschlagern und Brachialschwof
       Klangknäuel collagierte, die tanzbar und verstörend zugleich waren,
       hauntologische Ansätze von Künstlern wie The Caretaker in den Club führten.
       So zog es sich durch.
       
       Und nach fünf Tagen bleibt der Eindruck, dass in der neuen Inkarnation des
       Festivals Aspekte der Geräuschmusiken verloren gingen, die in der ersten
       noch integral dazugehörten: das Wissen zum Beispiel, dass ein Sound, der
       Industrial zweiter Ordnung ist, eben immer auch ein wenig Leni Riefenstahl
       vierter Ordnung ist.
       
       Wenn diese Reflexionsebene verloren geht, verkommen Lärm und Verstörung zur
       leeren Geste, zum Nullfaktor von Musik für Fans, die mit den auch politisch
       progressiven Ansätzen der ersten Generation kaum noch etwas zu tun hat. Wer
       das Dunkle der Musik in den Rang eines Keyboard-Solos stellt, eines reinen
       Genre-Signifiers also, kappt die Verbindungen zur Energie, die hinter der
       Musik steht. Wo sich ein Künstler nach dem anderen mit machtvoll stehenden
       Tönen in die Höhe schunkelte, erschien Atonalität ungefähr auf dem Level,
       das Prog-Rock hatte, als Johnny Rotten „I hate“ als Zusatz auf ein
       Pink-Floyd-T-Shirt schrieb. Schnell langweilig wurde es auch.
       
       Dabei ist da noch großes Potenzial: Der Serbe Abul Mogard, über den gesagt
       wird, er habe erst begonnen, Musik zu spielen, als er als Fabrikarbeiter in
       Ruhestand ging, spielte seine erste Live-Performance überhaupt als
       erdrückende, mittelalterlich-mystische Reise in die Brachialität von
       Drones. Die Dänen Damien Dubrovnik hingegen machten ihren Gig zum
       Exorzismus, ritualistisch, laut, gemein und geil.
       
       Die Weltpremiere des Projekts ALTAR der beiden Komponisten und Produzenten
       Roly Porter und Paul Jebanasam trug die Reiserichtung schon im Bandnamen,
       ihre Noisewellen waren herrlich kopfzersägend, genauso wie die tanzbaren
       schwer technoiden Attacken des Projekts Main/Regis, die von surrealen
       Visuals begleitet wurden.
       
       Auf dem Dancefloor glänzte der Club Tresor as usual durch Randomness auf
       hohem Niveau, die hauseigene Dorfdisco-Stage Globus war als Raum für das
       heiß erwartete Set der russischen Newcomerin Inga Mauer arg ungeeignet –
       gut, dass Mauer noch ein zweites Live-Set auf der kleinen Stage Null des
       Kraftwerks spielen konnte, das experimentell und dennoch immersiv die Menge
       mitriss.
       
       ## Das Knochenmark kitzeln
       
       Ebendort überzeugte auch Shlømo mit lautem, geilem
       90er-Jahre-Revival-Techno, während Peder Mannerfelt mit technischen
       Problemen kämpfte, aber die Crowd immer wieder mit das Knochenmark
       kitzelnden Bassfiguren pleaste, zugleich tanzbar und verschleppt.
       
       Im OHM dagegen rief Dilletanten-Veteran Mark Reeder, ein knuffiger
       Endfünfziger mit HJ-Frisur, zum Abschluss eines lebenshungrigen, fast
       Westbamesken Sets am Abend der Anschläge „Viva Barcelona!“ in die
       euphorische Menge, während der japanische DJ Yousuke Yukimatsu Heavy Metal
       in sein Techno-Set einflocht und mit heraustretenden Halsadern Luftgitarre
       spielte.
       
       Und dann war da noch das Konzert, das hier am wenigsten hinpasste: Der BBC
       Radiophonic Workshop trat erstmals in Deutschland auf – eine wenig
       beachtete Legende der elektronischen Musik, gegründet 1958 etwa von der
       Pionierin Daphne Oram und verantwortlich für das kollektive Wissen um den
       Klang von Raumschiffen und Lasern im Weltall.
       
       Die steinalten Herren spielten mit Theremin, Laptop und musealen Synthies
       Soundtracks zu Roboteraufmärschen. Es war natürlich schrecklich, nahe an
       Jean-Michel Jarre oder Alan Parsons. Aber ihre Art von Selbstreflexion und
       Mut zum Camp hat in den Atonal-Tagen zu vielen Künstlern, die
       unüberwältigend die Überwältigungsästhetik des Totalitären nachspielten,
       definitiv gefehlt.
       
       24 Aug 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Steffen Greiner
       
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