# taz.de -- Kolumne Mittelalter: Proletkult um „Sense8“
       
       > Warum die Netflix-Serie „Sense8“ die einen begeistert – und andere
       > langweilt. Und was das mit der Arbeiterklasse zu tun hat.
       
 (IMG) Bild: Tina Desai und Max Riemelt in einer Szene aus der zweiten Staffel von „Sense8“
       
       Erinnert sich noch jemand an den Arbeiter? Also nicht an den tatsächlichen,
       von dem heute niemand mehr was wissen will, weil er ja eh AfD, FN oder
       sonstige Rassisten wählt; sondern an jene Lichtgestalt der Geschichte, die,
       mit Brecht gesagt, die Führung in eine bessere Zukunft hätte übernehmen
       müssen, die aber auch in weniger elaborierten Propagandawerken „ermächtigt“
       werden sollte.
       
       Was erst mal bedeutete, den Arbeiter überhaupt abzubilden und darzustellen
       – und zwar nicht als komische oder miserable Figur, nicht als
       bemitleidenswertes pauperisiertes Geschöpf; sondern als Protagonisten, als
       Schöpfer einer neuen Welt für alle, was natürlich auf eine durchaus
       beabsichtigte Idealisierung hinauslief, eine Wette auf die Zukunft
       sozusagen, die erst dann zum Problem wurde, als im realen Sozialismus die
       Mächtigen im Wesentlichen unwidersprochen behaupten konnten, sie hätten den
       Arbeiter bereits ermächtigt, und das Ideal sei, wenn nicht schon
       eingetreten, so doch auf dem besten aller möglichen Wege.
       
       Uffa, jetzt müssen wir unbedingt ein wenig Netflix gucken, „Sense 8“. Geht
       ja aber nun leider gar nicht mehr richtig. Die Serie der Wachowskis sei zu
       teuer, sagt Netflix. Und das Bedauern ist groß: „Sense8“ , hieß es in der
       taz, sei „[1][die perfekt inszenierte Vielfalt]. Schwule, Lesben, People
       of Color, alle sind vertreten.“ Und so wie die Serie auf fast allen
       Kontinenten gedreht worden sei, so sei es auch eine neue Internationale,
       „insbesondere in der LGBTI-Community“, die nun gegen die Nichtfortsetzung
       protestiere.
       
       Allerdings gibt es auch eine andere Kritikerfraktion: Diese „Stinos“
       (Ronald M. Schernikau) fanden, teils bei allem Respekt für die Vielfalt
       usw., in der zweiten Staffel von „Sense8“ vor allem Langweile und
       Plotschwäche. Das Ganze wurde zur reinen Feier der Bilder. So eine Art
       „Werkkreis der Literatur der Arbeitswelt: Ich stand/ Am Band“ (Wiglaf
       Droste) in LGBT.
       
       Auch ich habe mich in der Mitte der 2. Staffel verabschiedet und warte
       jetzt auch nicht auf das für 2018 angekündigte – beziehungsweise von den
       Fans erzwungene – Serienfinale. Ich schlief zu oft ein, und dafür kann ich
       dann ja auch ein gutes Buch lesen. Aber das ist, you name it,
       uninteressant.
       
       Interessant finde ich die Unterschiede: Ein öder Film ist für viele
       Menschen deswegen nicht öde, weil ganz bestimmte Menschen, mit denen sie
       sich identifizieren, darin eine Rolle einnehmen, die ihnen sonst nicht
       zugestanden wird. Für die einen ist „Sense8“, 2. Staffel, das große Gähn,
       für die anderen das große Erwachen.
       
       Sie haben es längst kapiert: Die Protagonisten von „Sense8 „– das ist der
       idealisierte Arbeiter in neuem Gewand. Das sind die Leute, die die Führung
       übernehmen sollen. Und nur die altmodischen, womöglich reaktionären
       Zuschauer sehen Kitsch, wo die anderen das Neue sehen.
       
       Also vor allem: sich selbst. Denn wenn es einen Unterschied zwischen der
       alten und der neuen Ermächtigungskultur gibt, dann den, dass die Heutigen
       durch das Stahlbad des Neoliberalismus gegangen sind, mit der – keineswegs
       widerlegten! – Lektion, dass der einzige Kampf, der sich lohnt, der für
       einen selbst ist.
       
       27 Jul 2017
       
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