# taz.de -- Vor der Unterhauswahl in Großbritannien: Karneval zur Fernsehdebatte
       
       > Labour-Chef Corbyn wird in der Universitätsstadt gefeiert. Die Stimmung
       > scheint sich jedoch nicht nur in Cambridge gegen die Tories zu drehen.
       
 (IMG) Bild: Corbyn genießt den Rückhalt in Cambridge nach der TV-Debatte
       
       Cambridge taz | Als die füllige junge Bengalin mit rotem Lippenstift und
       geblümtem blauem Kopftuch hinten am Zaun ein Megaphon hervorkramt und in
       der gleißenden Abendsonne ein Weihnachtslied anstimmt, gucken die
       Demonstranten erst irritiert, dann fangen sie an zu lachen. Zur Melodie des
       Chorals „O Come All Ye Faithful“ (Adeste Fideles) brüllt sie eine
       selbstgedichtete Aufforderung an Theresa May in den Verstärker, „Gesicht zu
       zeigen“. Beim zweiten Mal singen viele mit. Die britische Premierministerin
       kommt nämlich nicht zur wichtigsten TV-Debatte des Wahlkampfes an diesem
       Mittwoch abend.
       
       Die BBC hat die britischen Parteichefs in den Festsaal vom Senate House
       geladen, mitten ins Herz des mittelalterlichen Universitätsviertels von
       Cambridge. Dass May nicht kommt, war von Anfang an klar. Bis Mittwoch
       Mittag galt die Ansage, dass dann auch Oppositionsführer Jeremy Corbyn
       nicht komme. Dann machte der Labour-Chef plötzlich eine Kehrtwende: Er geht
       nach Cambridge, May soll es ihm gleichtun, sagt er. Das tut sie natürlich
       nicht, sie lässt sich von ihrer Innenministerin vertreten. Taktischer Sieg
       für Corbyn, der bisweilen als leicht verwirrter Zauderer daherkommt.
       
       Dies sind keine normalen Zeiten in Großbritannien. Eigentlich galt Mays
       haushoher Sieg bei den vorgezogenen Neuwahlen am 8. Juni als sicher. Aber
       plötzlich geht Wechselstimmung durch das Land. Den gigantischen Rückstand
       auf Mays regierende Konservative hat Labour fast aufgeholt. Ein Debakel für
       May scheint möglich. „Let June Be The End Of May“ lautet der neueste linke
       Kampfspruch – ein Wortspiel auf die Premierministerin und den Monat Mai.
       
       Cambridge ist eine progressive Stadt im konservativen Gewand. Hinter den
       alten Gemäuern wird radikal gedacht, in den Buchläden liegt der neue
       Varoufakis stapelweise aus. Im lokalen Wahlkampf wetteifern Labour und
       Liberaldemokraten um die linken Stammtische. Wachsende Armut, Geldmangel im
       Bildungs- und Gesundheitswesen, die in den Straßen sichtbar gestiegene
       Obdachlosigkeit, aber auch die Sorge um den Forschungsstandort Cambridge in
       Brexit-Zeiten – das sind die Themen.
       
       ## EU-blau neben Labour-rot
       
       Für viele Jungwähler ist der 68jährige Corbyn ein Hoffnungsträger, der die
       Dinge beim Namen nennt, während May sie verschleiert. Vor Beginn der
       TV-Debatte füllen ausgelassene Demonstranten den Platz und die Straßen am
       Senate House. Eine lang angekündigte Pro-EU-Demo verschmilzt mit
       herbeiströmenden Corbyn-Fans, blaue EU-Fahnen wehen neben roten
       Labour-Schildern. Manche tragen kleine bunte Corbyn-Bilder ähnlich wie
       katholische Marienbilder, mit der Aufschrift „Hope“. Man skandiert Sprüche
       gegen Studiengebühren und für die Aufnahme von Flüchtlingen. Reggaemusik
       weht durch den lauen Sommerabend.
       
       Über das Soundsystem ertönt der aktuelle Renner der britischen Charts:
       „Liar Liar“ von Captain Ska, erst wenige Tage alt, aber alle hier können
       schon mitsingen. Das Protestlied schneidet Ausschnitte aus Mays Reden gegen
       den Refrain „She's a liar liar; she's a liar liar; you can't trust her, no
       no no no“. Die Menge singt und tanzt. Es herrscht Karnevalsstimmung, auch
       die Polizisten sind locker.
       
       Endlich kommt der Autokonvoi mit dem Helden des Tages. Corbyn steigt aus,
       dunkler Anzug, rote Krawatte, weißer Bart, ein gespielt ungläubiges
       Grinsen: So viele Leute, nur für mich? Er steht, er strahlt, er winkt,
       Daumen hoch, die Menge tobt, dann wird er hinter das gußeiserne Tor von
       Senate House bugsiert. „So ein schöner Mann“ seufzt eine ältere Dame an der
       Absperrung und dreht sich zum Gehen. „Das reicht. Ich wollte bloß ihn
       sehen.“ Aber die meisten harren aus, bis Corbyn am Schluss wieder
       herauskommt. Die TV-Debatte? Die interessiert hier niemanden.
       
       1 Jun 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dominic Johnson
       
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