# taz.de -- 200 Jahre Fahrrad: Als Hamburg einst Fahrradstadt war
       
       > Hamburg soll zur Fahrradstadt werden, so das erklärte Ziel des Senats.
       > Als Vorbilder dienen Kopenhagen und Amsterdam – das war mal genau anders
       > herum.
       
 (IMG) Bild: Pioniere mit Fahrrad: Vorstand des Altonaer Bicycle-Clubs um 1890.
       
       Am 10. September 1869 versammelte sich eine Menschenmenge auf einem Gelände
       an der heutigen Max-Brauer-Allee in Hamburg und wurde Zeuge eines bis dato
       nicht gesehenen Spektakels. Die Anwesenden beäugten ein
       Velociped-Wettreiten, eines der ersten Radrennen in deutschen Landen
       überhaupt, das weit mehr fesselte als das dort gleichfalls ausgetragene
       Elefantenrennen, vom Pferderennen ganz zu schweigen. Die wagemutigen
       „Velocipeden-Reiter“ auf ihren pedalbetriebenen, sackschweren
       Knochenschüttlern ließen die gebannten Zuschauer einen Blick in die ferne
       Zukunft der individuellen Mobilität ohne Pferde erhaschen.
       
       Die ließ aber noch auf sich warten, denn die Velozipede verschwanden bis
       auf einige unerschütterliche Besitzer bald wieder – wie bereits ein halbes
       Jahrhundert zuvor die von Karl Drais erfundenen Laufmaschinen. In Hamburg
       waren sie aufgrund des nicht vorhandenen Adels ohnehin kaum aufgetaucht.
       Die städtische Bevölkerung verspottete die wenigen Proto-Radfahrer auf
       ihren Velozipeden als weltfremde Spinner und die Polizei verwies sie
       regelmäßig von den Bürgersteigen. Die Fahrradpioniere waren vorerst in eine
       Sackgasse gefahren.
       
       ## So teuer wie ein Arbeiter-Jahreseinkommen
       
       Doch eine Schar von Erfindern entwickelte und verfeinerte im Laufe der
       1870er-Jahre das Hochrad und löste um 1880 einen kleinen Boom aus. Das
       Bicycle, wie es auch auf Deutsch angesichts der Dominanz der englischen
       Produktion hieß, war ein spektakuläres Sportgerät und kostete so viel, wie
       ein Arbeiter durchschnittlich im Jahr verdiente.
       
       Das männliche Bürgertum konnte sich mit dem auffälligen Vehikel inszenieren
       und abgrenzen. Sie organisierten sich in Vereinen, in Hamburg insbesondere
       im Altonaer Bicycle-Club von 1869/80 und dem Hamburger Bicycle-Club von
       1882. Die im Rennverein Hamburg-Altonaer Radfahrer zusammengeschlossenen
       Clubs bauten mit der 1885 eröffneten Grindelbergbahn an der Schlankreye
       ihr Mekka. Dort tummelten sich allsonntäglich Fahrradpioniere samt Anhang –
       unter ihnen die Fotografen und Unternehmer Robert und Friedo Wiesenhavern
       und William Alexander Wilkens, der 1876 die erste Werbeagentur Deutschlands
       gegründet hatte.
       
       ## Entwicklung nicht mehr zu bremsen
       
       Es wurden zwar immer mehr Bicyclisten, noch blieben sie aber eine kleine
       Minderheit. Doch die Entwicklung des Fahrrades, wie es seit Mitte der
       1880er-Jahre auch genannt wurde, ließ sich nicht mehr bremsen. Weil
       Hochradfahrer nicht selten schlimm stürzten, wurde das Safety Bicycle, das
       Niederrad, eingeführt und bewährte sich prächtig. Anfang der 1890er-Jahre
       kamen der Diamant-Rahmen und der Luftreifen hinzu und perfektionierten das
       Fahrrad.
       
       Bald sprang die Radsportbegeisterung aus Frankreich über und weckte selbst
       im kühlen Norddeutschland ungeahnte Leidenschaften. Die 250 Kilometer weite
       Distanzfahrt Hadersleben-Hamburg demonstrierte den Hamburgern ab 1894 dann,
       wie leistungsfähig ein Rennrad mit einem trainierten Fahrer sein konnte.
       Tausende Zuschauer pilgerten zum Ziel am Eidelstedter Bahnhof und begrüßten
       die Radfahrer mit „Bravo“ und „All Heil!“, dem populären Radfahrergruß.
       Weitere Rennen wie Hamburg-Berlin (1897) folgten und machten den Radsport
       zum wichtigsten Zuschauersport – bis der Fußball ihn später ablöste.
       
       ## Frauen fahren wie selbstverständlich Rad
       
       Nicht nur wagemutige Männer wollten jetzt radfahren, auch Frauen setzten
       sich wie selbstverständlich aufs Fahrrad. Immer neue Fahrradhersteller
       bedienten die steigende Nachfrage, in Hamburg baute die
       Hammonia-Fahrrad-Fabrik von A. H. Ueltzen an der Lübecker Straße Räder mit
       lokalpatriotischem Anstrich. Fahrradhändler wuchsen wie Pilze aus dem Boden
       und boten oft auch Fahrradunterricht an. Die Räder verfügten seinerzeit
       über einen starren Gang, waren also auf Fixies oder Mitpedder, wie sie
       früher hießen.
       
       Dank steigender Nachfrage und sinkender Preise konnten sich seit der
       Jahrhundertwende auch immer mehr Arbeiterinnen und Arbeiter ein eigenes
       Fahrrad leisten. Das Fahrrad wurde auf diese Weise zum demokratischen
       Sportgerät und vergraulte damit zugleich viele Pioniere aus dem Bürgertum,
       die sich nach neuen Spielfeldern umsahen und auf Motorräder, Automobile und
       später auch auf Flugzeuge umsattelten.
       
       Der Fahrradboom der Jahrhundertwende verwandelte Hamburg in eine
       Fahrradstadt. 1913 wurde Hamburg eine Millionenstadt, in der
       schätzungsweise rund 100.000 Menschen regelmäßig aufs Rad stiegen. Wer
       (noch) kein eigenes Fahrrad besaß, lieh sich eines von Familienangehörigen
       oder Freunden. In der Stadt fuhren Menschen Rad, um schneller zur Arbeit zu
       kommen oder um am Wochenende die Stadt hinter sich zu lassen. Auf
       dreirädrigen Lastenrädern wurden Waren befördert und Fahrradkuriere wie die
       vom 1908 gegründeten Messenger-Boys-Eilboten-Bureau beförderten Briefe und
       Dinge des täglichen Bedarfs.
       
       ## „Der schwerste Radfahrer der Welt“
       
       Der Fahrradboom war so ausgeprägt, dass er gerne auf die Schippe genommen
       wurde. In Hamburg veräppelte Artist und Komiker Emil Naucke die
       Fahrradenthusiasten als „der schwerste Radfahrer der Welt“. Gemeinsam mit
       dem „Zwerg Hansen“, einem kleinwüchsigen Gastwirt aus St. Pauli, führte der
       „Kolossalmensch“ Naucke mit seinen 235 Kilogramm in seinem Varieté auf dem
       Spielbudenplatz Fahrrad-Kunststücke vor, zum Gaudi des Publikums.
       
       Die Hamburger Behörden amüsierte der Siegeszug des Fahrrads deutlich
       weniger. Die 1908 erlassene Verordnung für den Radfahrverkehr sah vor, dass
       in der Stadt „nur mit mäßiger Geschwindigkeit gefahren werden“ dürfe. Damit
       sollte der Geschwindigkeitsrausch der männlichen Jugend eingedämmt werden.
       
       ## Hamburgs Radwege waren vorbildlich
       
       Hamburg tat aber auch was für den Radverkehr. Seit 1899 wurden Radwege
       gebaut, bis 1919 investierte die Stadt dafür die beträchtliche Summe von
       zwei Millionen Reichsmark. Hamburgs Radwege galten damals als vorbildlich.
       Gregers Nissen, treibende Kraft im Altonaer Bicycle-Club und wichtiger
       Fürsprecher des Radtourismus in Deutschland, begleitete Anfang des 20.
       Jahrhunderts „mehrfach Herren der Kopenhagener Stadtverwaltung und des
       Dansk Cyclist Forbund“ durch Hamburg und zeigte ihnen die gut ausgebauten
       Radwege.
       
       Die Kampagne „Schafft Fahrradwege in Stadt und Land“, unterstützt von der
       Industrie und großen Firmen wie Continental, sollte Mitte der 1920er-Jahre
       in Hamburg und ganz Deutschland die Fahrradinfrastruktur verbessern. Doch
       die Motorisierung zeichnete sich bereits ab. Andere bekämpften den
       Fahrradverkehr aktiv. Die Hamburger Hochbahn etwa verlor in den Jahren der
       Weltwirtschaftskrise viele Kunden, da die Hamburger aus Kostengründen
       vermehrt mit dem Fahrrad unterwegs waren. Radfahrer waren für die Hochbahn
       potentielle Kunden, die (wieder) gewonnen werden sollten.
       
       ## Radfahrender Sensenmann
       
       Mit Beginn der NS-Herrschaft nahm der Gegenwind für Radfahrer zu. Die
       Hamburger Hochbahn startete eine Kampagne, in der das Radfahren als sehr
       gefährlich dargestellt wurde. Statistische Angaben über Fahrradunfälle
       sollten dies untermauern. „Radfahrer, überlege es Dir“ war 1935 auf
       Straßenbahnwaggons zu lesen und damit auch jeder die Message verstand, war
       noch ein radfahrender Sensenmann zu sehen.
       
       Das NS-Regime versprach den „Volksgenossen“ den Volkswagen und wollte die
       Straßen vorsorglich schon einmal von Radfahrern befreien. 1937 erging eine
       allgemeine Radwegebenutzungspflicht, die nicht den Radfahrern, sondern den
       Autofahrern dienen sollte. Die Massenmotorisierung blieb jedoch erst einmal
       ein leeres Versprechen und die Hamburger fuhren weiter fleißig Fahrrad, wie
       Verkehrszählungen zeigten. Einige tausend Radler pro Stunde wurden an
       zentralen Stellen der Innenstadt dokumentiert. Während des Zweiten
       Weltkriegs nahm der Radverkehr sogar noch zu, da Ressourcen wie Benzin
       dringend für den Angriffskrieg der Wehrmacht benötigt wurden.
       
       ## Hamburg wird zur Autostadt
       
       Nach dem Untergang des „Dritten Reiches“ gehörte das Fahrrad in der
       wirtschaftlichen Krise der Nachkriegszeit wie selbstverständlich zum
       Alltag. Im Zuge des Wiederaufbaus setzte die von den Nationalsozialisten
       versprochene Massenmotorisierung dann doch ein. Hamburg wurde zur Autostadt
       umgebaut – die 1960 fertiggestellte damalige Ost-West-Straße etwa
       durchtrennt die Hamburger Innenstadt bis heute wie eine Schneise.
       
       Die Studie „Die autogerechte Stadt“ von Hans Bernhard Reichow aus dem Jahr
       1959 überging Radfahrer fast komplett und war damit zeittypisch. Das
       Fahrrad wirkte nun wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten und galt als
       Armutssymbol, mit dem niemand ertappt werden wollte.
       
       ## Proteste gegen die autogerechte Stadt
       
       Erst mit den wirtschaftlichen Problemen der 1970er-Jahre wie der Ölkrise
       1973 und dem Entstehen des alternativen Milieus wurde das Fahrrad wieder
       entstaubt. Und es formierte sich Widerstand gegen die auf das Auto
       zugeschnittene Verkehrspolitik. Am 8. Juni 1980 legten laut Polizeibericht
       20.000 Radfahrerinnen und Radfahrer die Hamburger Innenstadt lahm und
       demonstrierten gegen die autogerechte Stadt.
       
       Die nicht ohne Grund gerade in Hamburg so groß gewordene Critical Mass
       setzte diese Protestform später fort und tut dies bis heute am jeweils
       letzten Freitag im Monat. Aber trotz aller gegenwärtigen Bemühungen wird es
       wohl dauern, bis Hamburg wieder eine Fahrradstadt ist.
       
       Lars Amenda ist Historiker und Mitglied im Altonaer Bicycle-Club von
       1869/80.
       
       11 Jun 2017
       
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 (DIR) Lars Amenda
       
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