# taz.de -- Deniz Yücel: 100 Tage
       
       > „Glauben Sie nicht, dass die Haft auf einen Ort beschränkt ist.“ Dilek
       > Mayatürk kann ihren Mann Deniz Yücel erst seit kurzem in Haft besuchen.
       > Eine Anklage.
       
 (IMG) Bild: Wir wollen das Meer sehen #FreeDeniz
       
       Heute ist der hundertste Tag von Deniz' Unfreiheit. Ein weiterer Strich im
       Kalender der Unwägbarkeit … Es ist jetzt hundert Tage her, dass Deniz am
       14. Februar aus freien Stücken zur Polizei ging, um dort seine Aussage zu
       machen. Hundert Tage sind es einschließlich einer dreizehn Tage währenden
       Zeit in Polizeigewahrsam. Seit hundert Tagen fehlt er mir.
       
       Die größte Gemeinsamkeit zwischen drinnen und draußen besteht darin, dass
       man die Tage zählt. Aber das ironische an der Sache ist, dass man ab einem
       bestimmten Tag nicht mehr abwärts zählen kann. Die automatische Uhr im Kopf
       fragt nicht mehr: Wie viele Tage sind es noch? Sie fragt: Wie viele Tage
       sind es jetzt schon, dass unsere Lieben ohne Grund, ohne Recht, ohne
       Anklageschrift ihrer Freiheit beraubt werden? Das geht so jeden Tag, jeden
       Morgen.
       
       Die inhaftierten Journalisten und ihre Angehörigen sind überglücklich, wenn
       nach Monaten, endlich, eine Anklageschrift kommt. Weil sie dann zumindest
       wissen, wann die Verhandlung stattfinden wird. Manchmal wenden wir, die
       Ungeübten, uns an das Energiebündel Yonca, die Frau des Journalisten Ahmet
       Sik, der schon zum zweiten Mal verhaftet ist, weil „du ja so erfahren bist,
       Yonca“. Das zeigt, wie viele Absurditäten unser Leben jetzt prägen.
       
       Drinnen und draußen – das bedeutet auch, dass man ein Buch über die
       Absurditäten des eigenen Lebens schreiben könnte. Drinnen und draußen heißt
       gemeinsames beharrliches Warten darauf, dass die verrosteten Mühlen der
       Justiz wieder in Gang kommen. Noch einmal: Ich erwarte keine Gnade, sondern
       eine Anklageschrift. Aber ich habe noch eine weitere Zähluhr. Sie zählt die
       Tage, die Deniz in Isolationshaft gehalten wird. Es sind jetzt 87 Tage. Das
       ist schon für sich ein Verstoß gegen die Menschenrechte.
       
       ## Treffen, durch eine Glasscheibe getrennt
       
       Die Isolation kann körperliche und psychische Schäden verursachen, deren
       Auswirkungen jederzeit unvermittelt auftreten können. Diese erzwungene
       Einsamkeit ist eine Form psychischer Folter. Drinnen und draußen bedeutet,
       dass man denselben Himmel mit unterschiedlichen Augen sieht; zu wissen,
       dass man zumindest unter demselben Himmel lebt, dass man denselben Himmel
       wie die Lieben sieht, wenn man aufblickt, egal wo man sich gerade befindet.
       Das macht es vielleicht etwas leichter. Aber wir sehen nicht denselben
       Himmel wie Deniz und die anderen inhaftierten Journalisten, keiner von uns.
       Deniz sieht den Himmel durch ein Gitternetz.
       
       Er vergisst, was man draußen alles hat, aber man selber denkt beständig
       darüber nach, was denen da drinnen alles fehlt. Man denkt nicht nur daran,
       dass ihnen die Freiheit genommen wurde, dass sie grundlos eingesperrt
       wurden, sondern auch daran, dass ihnen drinnen die grundlegendsten Rechte
       genommen werden. Drinnen und draußen, das bedeutet, darauf warten, dass man
       einmal in der Woche durch eine Glasscheibe getrennt am Telefon miteinander
       sprechen kann, auf eine Stunde beschränkt.
       
       Und auf das offene Treffen, das wegen des Ausnahmezustands nur alle zwei
       Monate stattfinden darf … Weil ich zuvor keine Erfahrungen als „Besucherin“
       sammeln konnte, kann ich nur davon erzählen, was ich in jüngster Zeit
       gründlich gelernt habe: Nach Silivri fahren. Also an jenen Ort fahren, an
       dem Deniz seit 87 Tagen in Isolationshaft gehalten wird, ohne dass dafür
       ein Grund angeführt wird. Er wird beschuldigt, Propaganda für
       Terrororganisationen betrieben und Feindschaft und Hass im Volk verbreitet
       zu haben. Als Belege werden lediglich Artikel und Interviews genannt, die
       zweifelsfrei zu seiner journalistischen Tätigkeit gehören und die nach dem
       türkischen Presserecht verjährt wären. Zudem sind einige der Übersetzungen,
       die der Staatsanwalt vorgelegt hat, auch noch fehlerhaft.
       
       ## „Montags blutet mir das Herz“
       
       Der Weg nach Silivri ist nicht von Rosen gesäumt. Auf diesem Weg durchlebt
       man tausend und ein Gefühl gleichzeitig. Die Seele gerät aus dem Ruder, vor
       Aufregung, vor Sehnsucht, durch den Stress, der zu diesem Weg gehört,
       während man diese Kontrollen, die Iris-Scans und Drehkreuze passiert, die
       man hinter sich bringen muss, um den Menschen zu erreichen, den man sehen
       will.
       
       Während ich jeden Montag Stufe für Stufe diesen Weg zu Deniz‘ Zellenblock
       hinter mich bringe, bohrt sich jeder einzelne Zaun, den ich dabei passiere,
       in mein Herz. Und die Woche bis zu unserem nächsten Wiedersehen verbringe
       ich dann damit, mir diese Drähte wieder aus dem Herzen zu ziehen. Montags
       blutet mir das Herz, die restliche Woche bluten meine Hände. Stellen Sie
       sich vor, Sie müssten das jede Woche tun. Seine Wochen so verbringen – das
       bedeutet es, draußen zu sein.
       
       Nach einer Stunde, die man durch eine schallisolierte Scheibe getrennt und
       über ein Telefon verbunden verbracht hat, wenn diese begrenzte Zeit vorbei
       ist, dann ertönt ein Signal, dass man Abschied nehmen muss. Drinnen und
       draußen bedeutet, dass man sich am Ende der Besuchszeit zuwinkt und sich
       umdreht und das aufgesetzte Lächeln plötzlich erlischt. Glauben Sie nicht,
       dass die Haft auf einen Ort beschränkt ist. Es ist ein Prozess, in dem auch
       um diejenigen, die draußen warten, ein Zaun gezogen wird, bis in ihre
       Träume hinein.
       
       ## Niemals die Sprache des Hasses annehmen
       
       Wenn das draußen schon so ist – versuchen Sie sich vorzustellen, wie es
       drinnen ist. Dieses Alleinsein hinter der Gefängnistür, die sich nie öffnet
       und nur durch den Besuch eines Anwalts, eines Abgeordneten oder eine Stunde
       wöchentlich von der Familie durchbrochen wird. Stellen Sie sich diese
       Isolation vor. Das bedeutet es, drinnen zu sein. Deniz ist seit hundert
       Tagen in Gefangenschaft. Weit entfernt von denen, die er liebt, und von
       seiner geliebten Arbeit. Ich bin seit hundert Tagen draußen.
       
       So schön wie das Leben für einen Fisch auf dem Trockenen ist, so schön ist
       es für mich seit hundert Tagen, draußen zu sein. Aber draußen sein bedeutet
       auch, dass man mit den Angehörigen und Ehepartnern der anderen inhaftierten
       Journalisten eine enorme Solidarität aufbaut. Ganz gleich, ob man drinnen
       ist oder draußen – es bedeutet, dass man aus dem Gefühl, im Recht zu sein,
       noch geradliniger wird.
       
       Ich bin begeistert von Deniz' starker Haltung, die sogar mir noch Kraft
       verleiht, so wie ich gestern, heute und auch morgen stolz darauf sein
       werde, dass er ein Journalist ist, der seine Arbeit richtig macht. Ich
       werde niemals die Sprache des Hasses annehmen, denn wenn man im Recht ist,
       bringt das eine gewisse Haltung mit sich. Wenn Deniz immer noch stark und
       aufrecht ist, obwohl er ohne Anklageschrift und ohne Grund in
       Isolationshaft gehalten wird, dann liegt das daran.
       
       Aus dem Türkischen von Ogün Duman 
       
       Zum 100. Tag der Gefangenschaft von Deniz Yücel erscheint dieser Text
       gleichzeitig bei Spiegel Online, WELT, Zeit Online sowie den Homepages der
       Deutschen Welle und von Reporter ohne Grenzen.
       
       24 May 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dilek Mayatürk
       
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       Seit 100 Tagen sitzt Deniz Yücel nun in Haft. Seine Situation hat sich
       nicht verbessert. Zeit also, um mal ganz oben anzuklopfen.