# taz.de -- Kurdenpolitik: „Zurück auf Null“
       
       > Hatip Dicle war Teil der Delegation, die die Friedensgespräche zwischen
       > der Regierung und PKK ermöglichte. Eine Bilanz.
       
 (IMG) Bild: Proteste gegen Dicles entzogenes Mandat, 2011.
       
       Seit den 1970er-Jahren schon ist Hatip Dicle aktiv in der Politik. Der 1954
       in Diyarbakir geborene Ko-Vorsitzende des kurdischen Dachverbandes DTK saß
       in der Türkei mehrmals langjährige Haftstrafen ab und wurde bei den
       Parlamentswahlen 2011, bei denen er aus dem Gefängnis für die Provinz
       Diyarbakır parteiunabhängig kandidierte, gewählt. Doch entzog ihm das Hohe
       Wahlamt das Mandat, worauf massive Proteste in seiner Heimatstadt folgten.
       Wir trafen Dicle zum Gespräch in Mainz.
       
       ## taz: Herr Dicle, Sie waren als kurdischer Politiker Teil der Delegation,
       die Friedensgespräche zwischen der türkischen Regierung und der PKK
       ermöglicht hat. Sie kamen damals frisch aus dem Gefängnis, oder?
       
       Hatip Dicle: Ja, ich habe insgesamt 15 Jahre im Gefängnis verbracht. Meine
       letzte Haftentlassung war im Juni 2014. Zu dem Zeitpunkt hatten die
       Gespräche schon angefangen, ich war in den letzten acht Monaten dabei. Herr
       Öcalan (inhaftierter PKK-Führer Abdullah Öcalan, Anm. d. Red.) hatte
       gefordert, dass ich entlassen und in die Delegation aufgenommen werde, weil
       ich auch an den allerersten Friedensgesprächen beteiligt war.
       
       ## Wann waren die ersten Gespräche?
       
       Als die PKK 1993 ihren ersten Waffenstillstand verkündet hat, war ich
       Abgeordneter. Staatspräsident Özal hatte uns beauftragt, von Öcalan eine
       Verlängerung des Waffenstillstandes zu fordern. Özal glaubte, er habe das
       Militär überzeugt, sich auf eine politische Lösung einzulassen. Also sollte
       ich auch diesmal wieder dabei sein.
       
       ## Wie verliefen aus Ihrer Sicht die letzten Verhandlungen, 2014-2015 mit
       der AKP-Regierung?
       
       Öcalan schlug der AKP-Regierung autonome Gebiete nicht nur für Kurdistan
       vor, sondern z.B. auch für Thrakien, Istanbul, die Schwarzmeerküste –
       ähnlich wie in Spanien. Der Staat reagierte zunächst positiv. Zu den
       Verhandlungen von Dolmabahçe sollten neben Öcalan auch Aleviten, Armenier,
       Aramäer, Frauenbewegungen, Umweltschützer, Gewerkschaften– also alle
       sozialen Gruppen, die Forderungen an eine demokratische Verfassungsreform
       formuliert hatten – eingeladen werden. Die Türkei führte zeitgleich
       Gespräche mit der YPG in Rojava.
       
       ## Und wie kam es zum abrupten Ende der Verhandlungen?
       
       Staatspräsident Erdoğan stieß den Verhandlungstisch im April 2015 um und
       setzte die Türkei somit zurück auf Null. Es gab wieder Krieg. Für uns steht
       fest: Es gibt in der Türkei Kreise, die an eine Lösung des Konfliktes mit
       demokratischen Mitteln glauben und solche, die auf Vernichtung setzen.
       Leider hat Erdoğan mit Letzteren eine Allianz geschlossen.
       
       ## Als Zeitzeuge dieser Prozesse hat der Staat jetzt wiederholt von Ihnen
       einerseits Vermittlungsdienste gefordert und sie andererseits dafür
       bestraft und inhaftiert. Haben Sie das nicht langsam satt?
       
       Frieden ist wichtig für uns. Für viele Menschen endet der Konflikt mit dem
       Tod. Wenn wir ihn irgendwie politisch lösen können, nehmen wir dafür die
       Inhaftierung in Kauf. Öcalan selbst hat gesagt, die Kurden werden die
       letzten sein, die den Verhandlungstisch verlassen. Die PKK hat jetzt schon
       acht oder neunmal einen Waffenstillstand ausgerufen. Das hat aber nie zu
       einem Friedensschluss geführt. Die Staatspolitik lässt sich am besten mit
       einem Witz erklären: Ein Kurde und ein Türke werden zum Tode verurteilt…
       
       ## .. das ist doch der Witz, den der Journalist Deniz Yücel in einem
       Artikel wiedergegeben hat. Dafür werden ihm Volksverhetzung und
       Terrorpropaganda vorgeworfen.
       
       Ja, genau. Aber der „Türke“ in dem Witz meint ja den Staat, es ist doch
       nichts gegen die Türken an sich! Also, der Kurde will noch einmal seine
       Mutter sehen, aber der letzte Wunsch des Türken ist, dass dem Kurden dies
       verwehrt bleibt. Die Syrien-Politik der Türkei fußt darauf, dass die Kurden
       keinen Status in Syrien erringen. Diese Politik ist aber gescheitert. Der
       IS hat einen Genozid an den Jesid*innen im irakischen Schengal versucht,
       und die PKK-Guerilla unterhält nach ihrer Intervention dort militärische
       Stellungen zum Schutz der Jesiden. Und nun will die Türkei in Schengal
       eingreifen, denn: Der Kurde soll seine Mutter nicht mehr sehen!
       
       ## Aber der Witz ließe sich auch auf die Innenpolitik übertragen.
       
       Klar, auch unsere Abgeordneten sind verhaftet und unsere
       Kommunalverwaltungen unter Zwangsaufsicht gestellt worden. Es gibt keinen
       einzigen zivilgesellschaftlichen Verein mehr, der in den kurdischen Städten
       aktiv sein darf und rund 250.000 Menschen sitzen in türkischen
       Gefängnissen. Vor dem Hintergrund der Verfassungsänderungen, die im
       Referendum abgestimmt werden sollen, kann man sagen, dass die Türkei auf
       eine Alleinherrschaft vom Schlage Hitlers unter einer neo-osmanischen
       Reichsideologie zusteuert.
       
       ## Ihr Ansatz wurde vom Staat nicht wertgeschätzt, ja. Wir haben aber auch
       gesehen, dass die PKK-Führung im Kandil-Gebirge die beharrliche
       Friedenspolitik, die Sie vertreten, als naiv abgetan hat.
       
       Wir sind ja ständig mit dem Einverständnis des türkischen Staats nach
       Kandil gefahren. Dort haben sie uns Berichte über die Militärbewegungen in
       der Gegend mitgegeben, in denen es hieß: Die türkische Armee bereitet sich
       nicht auf Frieden, sondern auf einen Krieg vor. Öcalan hat das zur Kenntnis
       genommen.
       
       Er war darauf gefasst, dass es zu furchtbarem Blutvergießen kommen könnte,
       aber sagte, die kurdische Bewegung werde das überstehen, eine Partei namens
       AKP hingegen nicht. Er hat uns auch gesagt: Wenn der Friedensprozess
       scheitert, wird einem Militärputsch nichts mehr im Weg stehen. Und so kam
       es ja auch. Er sagte, wenn die AKP so naiv sei, sich von der NATO
       abzuwenden und eine eurasische Großmachtspolitik zu verfolgen, werde sie
       gegen die Wand fahren. Ich glaube, er hat Recht behalten.
       
       ## Welche Folgen werden nun die Verfassungsänderungen haben, die Sie
       unbedingt verhindern möchten, und in die sich die AKP etwas blindwütig
       stürzt?
       
       Erdoğan möchte die Gewaltenteilung aufheben. Er hat die
       Kommunalverwaltungen schon ausgeschaltet. Die meisten Befugnisse des
       Parlaments sollen aufgehoben werden. Etwa die Möglichkeit, ein
       Mißtrauensvotum zu stellen, über das Regierungsprogramm abzustimmen oder um
       mündliche Anfragen an die Regierung zu stellen. Nicht einmal mehr den
       Haushalt soll das Parlament beschließen können. Die Minister sollen nicht
       mehr vom Parlament gewählt, sondern vom Präsidenten ernannt werden.
       
       ## Was bedeutet das für die Justiz?
       
       Der Präsident soll die rechtssprechenden Organe selbst besetzen dürfen,
       also den Verfassungsrichter ernennen oder den Justizminister, der für die
       Ernennung sämtlicher Staatsanwälte und Richter zuständig sein soll. Er soll
       nicht nur die Befugnis bekommen, den Ausnahmezustand zu verhängen, sondern
       auch Krieg zu erklären.
       
       Erdoğan hat offen gesagt, dass er einen unitären Zentralstaat plus
       Präsidialsystem will und als historische Referenz für dieses System
       unverblümt Hitler angeführt. Er möchte 100 Jahre nach Enver Pascha dessen
       Projekt wieder aufleben lassen, anstelle des osmanischen Reiches ein neues
       türkisches Großreich zu setzen.
       
       ## Enver Pascha gilt als einer der Hauptverantwortlichen für den Völkermord
       an den Armeniern.
       
       Genau. So wie Enver Pascha den Genozid an den Armeniern und Aramäern
       durchgeführt hat, würde Erdoğan, sobald die Bedingungen es zulassen, einen
       Genozid an den Kurden durchführen. Die Verbindungen zwischen dem Regime und
       islamistischen Terrorgruppen wie dem IS, al-Nusra oder Ahrar al-Sham sind
       ja auch von ausländischen Geheimdiensten dokumentiert worden. Und nun soll
       auch die Todesstrafe wieder eingeführt werden. Dadurch werden die
       Beziehungen zwischen der Türkei und Europa abreißen und die Türkei zu einer
       mittelöstlichen Diktatur mit einer expansionistischen Kriegspolitik.
       
       ## Das Hohe Wahlamt (YSK) steht derzeit in der Kritik, weil es am Tag des
       Referendums kurz nach Schließung der Wahllokale nicht behördlich
       gestempelte Stimmzettel für gültig erklärt hatte. Dasselbe Wahlamt hatte
       Ihnen 2011 das Mandat entzogen. Was sagen Sie zur Rolle des YSK?
       
       Bereits vor dem Referendum herrschte eine äußerst antidemokratische
       Stimmung im Land. Doch die Entscheidung des YSK nach Schließung der
       Wahllokale ist ein Skandal. Das Amt hat die Ergebnisse manipuliert und
       damit die Entscheidung des Volkes. Erdoğans Regime hat seine Legitimität
       verloren und kann nur noch als Diktatur gelten. Wir sind sehr besorgt um
       das Land.
       
       19 Apr 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Oliver Kontny
       
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