# taz.de -- Porträt einer kubanischen Revolutionärin: Rebellin, Mythologin, Forscherin
       
       > Natalia Bolívar Aróstegui hat die kubanische Revolution von innen erlebt.
       > Bis heute widmet sie sich der Kultur der afrokubanischen Religionen.
       
 (IMG) Bild: „Fidel war von hoher Überzeugungskraft.“ Natalia Bolívar Aróstegui im Gespräch mit dem Máximo Líder der kubanischen Revolution
       
       Natalia Bolívar empfängt mich in ihrem Geburtshaus in Miramar, im vornehmen
       Viertel von Havanna, in dem damals wie heute die privilegierten Familien
       residieren. Der Salon, in dem wir uns auf gepolsterten Schaukelsesseln
       niederlassen, ist vornehmlich mit kubanischer Malerei, Skulpturen und
       religiöser Kunst ausgestattet. Zum mitgebrachten Bier zündet Natalia sich
       einen Zigarillo an und ein Hauch von Revolution schwebt durch den Raum.
       
       „Ich war das schwarze Schaf der Familie, und zwar das allerschwärzeste, das
       du dir vorstellen kannst!“, beginnt sie ihre Erzählung. „Ich bin Rebellin –
       mit und ohne Grund.“ Natalia Bolívar, 1934 geboren, liebt es, sich als
       „schwarzes Schaf“ zu bezeichnen, obgleich es in ihrem weit verzweigten
       aristokratischen Stammbaum an revolutionären Kämpfern kaum fehlt.
       Väterlicherseits lässt sich dieser direkt zu Simón Bolívar, dem „Befreier
       Lateinamerikas“, zurückverfolgen. Rebellische Gedanken hatte auch schon ihr
       Vater. Er lehnte sich gegen die zunehmend brutale Herrschaft Gerardo
       Machados auf, des fünften Präsidenten der Republik Kuba (1925–1933).
       
       „Das war eine komplizierte Angelegenheit“, erinnert sich Natalia, während
       sie an ihrem Zigarillo zieht, „einerseits wusste ich nichts von Politik,
       auf der anderen Seite war mir aber klar, dass mein Vater während des
       Machado-Regimes im Gefängnis gesessen hatte und sie ihn fast umgebracht
       hätten! Aber bei uns zu Hause wurde nie von Politik gesprochen. Das war
       ganz und gar verboten.“
       
       „Bereits mit zehn Jahren brachte mir mein Cousin das Schießen bei – mit
       einer 45er Thompson-Maschinenpistole. Er zeigte mir auch, den Zünder von
       Granaten zu ziehen. Ich war ein richtiger Teufel!“, sagt sie lachend und
       schaukelt in ihrem Sessel hin und her.
       
       ## Revolutionärin aus dem Hochadel
       
       Bolívar offenbart ihr Leben, als wäre Rebellion für sie schon immer eine
       Selbstverständlichkeit gewesen.
       
       Dabei lebt sie zunächst das Leben einer Tochter aus dem Hochadel: die
       strenge Erziehung in der Nonnenschule des Sagrado Corazón de Jesús, wo sie
       ihr Abitur ablegt, dann ein Studium der Malerei an der Escuela de Artes
       Plásticas San Alejandro. An den Wochenenden nimmt sie den Sportflieger nach
       Miami, um sich zu amüsieren. Mit ihren 18 Jahren genießt sie das enorme
       Freiheitsgefühl des Fliegens. „Damals brauchte man keinen Pass und kein
       Visum!“
       
       Weil sie fließend Französisch und Englisch spricht, kann sie 1955 eine
       Arbeit als Touristenführerin im Museo Nacional de Bellas Artes aufnehmen.
       Sie interessiert sich für Folklore. „Obwohl das meiner Mutter gar nicht
       gefiel.“
       
       Während ihrer Arbeit am Museum begegnet sie auch José Luis Wangüemert, der
       Liebe ihres Lebens. Wangüemert gehört der geheimen Studentenbewegung
       Directorio Revolucionario Estudantil an, die mit Waffengewalt den Sturz des
       Diktators Fulgencio Batista vorantreibt. 1957 führt er Natalia in die
       Bewegung ein.
       
       Ihre aristokratische Herkunft ist für die Revolutionäre die perfekte
       Tarnung. Sie schmuggelt Waffen, bastelt Bomben und mietet Häuser an. Bei
       der Planung des Anschlags vom 13. März 1957 auf den Präsidentenpalast ist
       sie beteiligt. Doch während Bolívar eine Gruppe von 100 Touristen durch das
       Museum gegenüber dem Palast führt, muss sie zusehen, wie der Umsturzversuch
       misslingt. Unter den Todesopfern ist auch Wangüemert.
       
       ## Für den „real existierenden Sozialismus“ hat sie nichts übrig
       
       Beim bewaffneten Überfall auf die 15. Polizeistation in Havanna ist sie
       dann selbst mit dabei. „Sie dachten, weil ich aus der Oberschicht kam,
       würde ich niemals gefangen genommen.“ Das war ein Irrtum. „Im Juli 1958
       wurde ich festgehalten und gefoltert. Sofort wurde ich auch aus dem Museum
       entlassen und musste in den Untergrund gehen.“ Nüchtern berichtet sie vom
       Widerstandskampf. Vielleicht hat sie es auch schon zu oft erzählt.
       
       Nach dem Triumph der Revolution 1959 ernennt Fidel Castro sie zur
       Direktorin der Kunstmuseen. „Fidel lernte ich im ersten Ministerrat kennen.
       Ich war gekommen, um auf die Probleme, die der Umbau des Museums mit sich
       brachte, aufmerksam zu machen: auf die Konservierung der Kunstwerke und auf
       die Bezahlung der Arbeiter. Fidel sagte mir das Geld sofort zu.“ Auf ihre
       gute Beziehung zum Máximo Líder ist sie stolz und seine Ausstrahlung
       beschreibt sie als charismatisch: „Fidel war von so hoher
       Überzeugungskraft, dass du zwar deine eigene Meinung haben konntest, aber
       schon nach fünf Minuten hattest du keine mehr. Er war eine so starke
       Persönlichkeit.“
       
       Sie ist es auch. Ihre Haltung scheint unbeugsam, sie ist eine couragierte
       Person und wenn es sein muss auch eine polemische. Für den „real
       existierenden Sozialismus“ hat sie nichts übrig: „Nein, das ist eine sehr
       folkloristische Folklore! Man könnte es ‚sociolismo‘ – Vetternwirtschaft –
       nennen, aber Sozialismus nicht!“, schnaubt sie.
       
       Diese Mischung aus Geradlinigkeit und kritischer Bewunderung ist heute
       gefragt. Doch das war nicht immer so: Nachdem Bolívar in den 70er Jahren
       die Restriktionen des Regimes bezüglich religiöser Praktiken kritisierte
       hatte, wurde sie postwendend von ihrem Museumsposten entfernt und musste
       Grabsteine reinigen. „Die Regierung vertrat die Ansicht, dass Religion Teil
       deiner Spiritualität ist, aber nicht dazu da sei, um von der Kanzel herab
       Konterrevolution zu betreiben, wie die Kirchen das gemacht haben! Das war
       ein großer Irrtum der Kirchen. Da mussten sie gehen!“
       
       Die Anpassung der Kubaner an die sozialistische Wirklichkeit nennt sie
       „Doppelmoral“. „Das ist Teil der kubanischen Identität. Du weißt nie genau,
       mit wem du es zu tun hast … In diesen 50 Jahren haben wir sehr schlimme
       Zeiten erlebt: Aus der ‚Sonderperiode‘ sind wir in Wirklichkeit noch nicht
       heraus. Der Staat teilte die Arbeit zu und wenn du angekreuzt hast, dass du
       einer afrokubanischen Religion angehörst, dann haben sie dir eine Arbeit
       als Putzkraft gegeben. Stell dir vor, was das für die Familien bedeutete!
       Die Leute mussten ja von etwas leben! Tausende von Santeros, die
       Priesterinnen und Priester, mussten jahrelang ihre Religion heimlich
       ausüben.“
       
       Sie ist eine der wenigen noch lebenden Personen, die die kubanische
       Revolution von innen erlebt haben. Nicht erst seit Fidel Castros Tod wird
       sie gerne um ihre Meinung gebeten
       
       Nachdem sie ihren Direktorinnenposten verloren hat, schreibt Bolívar ihr
       erstes Buch über die afrokubanischen Religionen: „Los Orishas en Cuba“.
       Über sechs Jahre verstaubt es im Verlag. Keiner will das Werk
       veröffentlichen. Und dann löst man das Problem auf kubanische Art: „Eines
       Tages, in einer Bar im Jahr 1990 – als es nichts zu essen und nichts zu
       trinken gab –, brachte mir ein Freund ein paar Kartons Bücher. ‚Guck mal,
       das ist dein Buch.‘Aber auf dem Buchdeckel waren nur Marx und Engels zu
       sehen. Und ich sage: ‚Hör mal, ich hab nichts mit Marx und Engels zu
       tun!‘Aber er meinte: Beruhige dich, jetzt warte doch!, und klappte das Buch
       auf und es war ‚Los Orishas‘ – nur eben mit einem anderen Buchdeckel …“
       
       „Das hat mich in große Schwierigkeiten gebracht. Ich führte einen
       Rechtsstreit und das wurde zu einer Riesensache. Doch zum Schluss mussten
       sie das Buch ordentlich herausgeben! Und im Komitee gab es eine Versammlung
       mit allen Parteigenossen und es wurde entschieden, dass jeder seine
       Religion ausüben darf, solange man nicht gegen die Revolution verstößt.“
       
       Inzwischen hat Natalia Bolívar um die fünfzig Bücher und Aufsätze über die
       afrokubanischen Religionen veröffentlicht. Sie ist eine der wenigen noch
       lebenden Personen, die die kubanische Revolution von innen erlebt haben.
       Nicht erst seit Fidel Castros Tod wird sie gerne um ihre Meinung gebeten.
       Sie steckt voller Geschichten und profundem Wissen und schmiedet dabei an
       ihrem eigenen Mythos.
       
       Manchmal erscheinen ihre Positionen widersprüchlich und als ich wieder
       draußen auf der Straße in Havanna stehe, habe ich mehr Fragen als zuvor.
       Ihre Nichte Rosa, die mich ein Stück begleitet, sagt mir, dass Natalia an
       ihrer Autobiografie schreibe. „Und wenn die erscheint – dann platzt eine
       Bombe!“
       
       17 Apr 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ulrike Prinz
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Kuba
 (DIR) Schwerpunkt Fidel Castro
 (DIR) Revolution
 (DIR) Lesestück Recherche und Reportage
 (DIR) Reiseland Kuba
 (DIR) Schwerpunkt Fidel Castro
 (DIR) Schwerpunkt Fidel Castro
 (DIR) Kuba
 (DIR) Schwerpunkt Fidel Castro
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Kuba im Wandel: Endlich Shopping
       
       Der Tod von Fidel Castro machte es besonders deutlich: Kuba wandelt sich.
       Der Kapitalismus pirscht sich an. Zeit für eine Einkaufstour.
       
 (DIR) Nach dem Tod von Castro: Keine Fidel-Parks in Kuba
       
       Der letzte Wille des Revolutionsführers war es, dass es keinen Personenkult
       um ihn geben soll. Das Parlament in Havanna verabschiedete jetzt ein
       entsprechendes Gesetz.
       
 (DIR) Kolumne Afrobeat: Afrikas geliebter Fidel
       
       Castros Hilfe im Kampf gegen rassistische Regime prägte den Kontinent.
       Afrika heute wäre ohne Kubas Politik des militärischen Eingreifens nicht
       denkbar.
       
 (DIR) Brief eines Kubaners nach Castros Tod: „Fidel hat jungen Leuten nie vertraut“
       
       Unser Autor verdankt Fidel Castro sein Studium, sein Haus und das Leben
       seiner Mutter. Dennoch kann er nicht um ihn weinen.
       
 (DIR) Abschied von Fidel Castro: „Adiós Comandante“
       
       Zahlreiche Staats- und Regierungschefs erweisen Kubas Ex-Präsident die
       letzte Ehre. Für seine Schattenseiten ist bei der Feier kein Platz.