# taz.de -- Akademiker*innen für den Frieden: Nur eine Unterschrift
       
       > Nach einer Friedenspetition verloren unzählige türkische
       > Wissenschaftler*innen ihre Jobs. Einige emigrierten nach Deutschland.
       
 (IMG) Bild: Die Istanbul Üniversitesi ist die älteste Hochschule der Türkei
       
       Das Leben von Bediz Yılmaz Bayraktar hat sich durch eine einzige
       Unterschrift verändert. Hätte sie vor einem Jahr nicht ihren Namen unter
       die Petition der Akademiker*innen für den Frieden gesetzt, dann würde sie
       jetzt nicht hier in einem Café in Berlin-Kreuzberg sitzen, sondern an der
       Universität Mersin lehren.
       
       „Wir, die Akademiker*innen und Wissenschaftler*innen dieses Landes werden
       nicht Teil dieses Verbrechens sein“, stand in der Petition, die im darauf
       folgenden Jahr für viel Aufsehen in der Türkei sorgen sollte.
       
       Es war nichts weniger als ein Aufschrei der Empörung über die Monate
       andauernden Ausgangssperren im Südosten der Türkei, bei denen das türkische
       Militär mit äußerster Gewalt gegen Zivilisten vorging. In dem Aufruf
       forderten die Unterzeichner*innen ein sofortiges Ende der „Vernichtungs-
       und Vertreibungspolitik gegenüber der gesamten Bevölkerung der Region“.
       
       „Meine Uni war eine der ersten staatlichen Universitäten, die
       unterzeichnende Akademiker*innen entlassen hat. Der Rektor ist
       regierungsnah und betrachtet uns als Vaterlandsverräter und Betrüger“,
       erzählt Bediz Yılmaz Bayraktar. Diese Reaktion hatte sie nicht erwartet.
       „Es war nur eine Petition.“ Manche Kolleg*innen hätten nicht einmal
       unterschrieben, weil sie fanden, dass diese Aktion zu wenig politisches
       Engagement erfordere. Aber der Aufruf schlug Wellen in der Gesellschaft:
       Fast 60 Berufsgruppen setzten ähnliche Petitionen auf.
       
       ## Keine Jobs, keine Wohnungen
       
       „Ich denke, Erdoğan hatte Angst, dass die Bewegung größer wird. Er nannte
       uns Terroristen und Feinde. Jeder, der sich mit der Regierung gut stellen
       wollte, hat die Unterzeichnenden bestraft“, sagt die Migrationsforscherin.
       „Es gibt Kolleg*innen, die alles verloren haben, aber nur wenige haben sich
       genötigt gefühlt, ihre Unterschrift zurückzuziehen.“
       
       Zunächst habe sie gedacht, dass sie einen Weg finden wird. Doch im
       Ausnahmezustand begriff sie, dass ihr alle Lebensbereiche verschlossen
       sind. „Es ist ein gesellschaftlicher Tod, der da gerade passiert. Wir
       finden keine Jobs und keine Wohnungen mehr“, sagt Bayraktar. Sie beschloss,
       nach Deutschland zu gehen.
       
       Doch über sich selbst will Bediz Yılmaz Bayraktar eigentlich gar nicht
       sprechen. „Das ist nicht die richtige Zeit, um emotional zu sein. Es ist
       nicht einfach, aber es gibt Menschen, die in einer weit schwierigeren Lage
       sind als ich. Mit ihnen müssen wir solidarisch sein“, winkt sie ab. Sie
       erzählt ihre Geschichte stellvertretend für die rund 2.000
       Unterzeichner*innen der Friedenspetition, denen es ähnlich erging wie ihr.
       
       Schon vor dem Putschversuch im vergangenen Sommer ging der türkische Staat
       mit äußerster Härte gegen die Akademiker*innen für den Frieden vor. Viele
       der Unterzeichner*innen verloren ihre Arbeit, 41 Wissenschaftler*innen
       kamen in Untersuchungshaft. Im März 2016 wurden die Professor*innen Esra
       Mungan, Meral Camcı, Muzaffer Kaya und Kıvanç Ersoy wegen mutmaßlicher
       terroristischer Propaganda festgenommen und erst nach 40 Tagen aus der
       Untersuchungshaft entlassen.
       
       ## Stipendium für gefährdete Wissenschaftler*innen
       
       In einer gemeinsamen Erklärung schreiben die vier Wissenschaftler*innen,
       die Forderung nach Frieden sei kein Verbrechen und könne nicht verurteilt
       werden. Im Ausnahmezustand entließ die Regierung per Notstandsdekret bis
       heute mehr als 7.000 Akademiker*innen. Bei der jüngsten Entlassungswelle
       Anfang Februar war mehr als die Hälfte der 330 betroffenen
       Wissenschaftler*innen Teil der Akademiker*innen für den Frieden. Viele von
       ihnen können die Türkei nicht verlassen.
       
       Bediz Yılmaz Bayraktar ist eine von 21 türkischen Akademiker*innen, die
       nach dem Putschversuch mit dem Philipp-Schwartz-Stipendium für gefährdete
       Wissenschaftler*innen nach Deutschland gekommen sind. Das Stipendium
       ermöglicht es ihnen, zwei Jahre an einer deutschen Universität zu arbeiten.
       
       Ursprünglich als Initiative für geflüchtete Wissenschaftler*innen von der
       Humboldt-Stiftung ins Leben gerufen, sind die Akademiker*innen aus der
       Türkei dem Stiftungssprecher Georg Scholl zufolge in der zweiten
       Vergaberunde die stärkste Gruppe – noch vor Wissenschaftler*innen aus
       Kriegsgebieten wie Syrien oder dem Irak.
       
       Es gibt keine Zahlen dazu, wie viele Akademiker*innen aus der Türkei in
       Folge des Putschversuchs nach Deutschland gekommen sind. „Es dürfte aber
       deutlich mehr geschützte Forscher aus der Türkei geben, die an deutschen
       Universitäten Schutz gefunden haben – über die von uns finanzierten
       Stipendien hinaus“, schätzt Scholl.
       
       ## Türkische Intellektuellen-Szene in Deutschland
       
       Die türkischen Emigrant*innen sind – ähnlich wie bei der Auswanderungswelle
       nach dem Putsch 1980 – politisch und engagiert. In den deutschen
       Großstädten bildet sich derzeit eine Szene der neu angekommenen türkischen
       Intelligenzija. Die Akademiker*innen haben alles in der Türkei
       zurückgelassen – außer der Sorge um die aktuellen Entwicklungen in ihrem
       Land. Auch in der Diaspora organisieren sich die Intellektuellen politisch
       und suchen nach Wegen, sich von Deutschland aus für Frieden und Demokratie
       einzusetzen.
       
       Çetin Gürer, ebenfalls Stipendiat der Philipp-Schwartz-Initiative, arbeitet
       seit sieben Monaten an der Universität Bremen, doch im Kopf ist er die
       Hälfte der Zeit in der Türkei. Der 40-Jährige hat in Deutschland studiert,
       spricht fließend Deutsch. „Körperlich sind wir in Deutschland, aber geistig
       sind wir noch nicht hier angekommen. Wir machen uns Sorgen und Gedanken,
       wie wir hier im Exil die Entwicklungen in der Türkei verhindern können“,
       sagt er über sich und seine emigrierten Kolleg*innen.
       
       „Mittlerweile sind viele der Wissenschaftler nach Deutschland gekommen.
       Unsere Zahl steigt von Tag zu Tag. Wir organisieren uns gegen die
       autoritäre Entwicklung in der Türkei“, erzählt Gürer am Telefon. Gemeinsam
       mit 66 türkischen Akademiker*innen und Aktivist*innen aus anderen
       Berufsgruppen hat er im Dezember 2016 das Europäische Forum für Frieden,
       gegen Krieg und Diktatur gegründet. „Wir haben nicht geschwiegen und werden
       nicht schweigen“, schreiben die Gründer*innen des Forums in einer
       gemeinsamen Erklärung.
       
       Çetin Gürer bezeichnet die Entlassungswellen, die sich gegen die
       Akademiker*innen für den Frieden richten, als Hexenjagd. Die
       Mainstream-Medien hätten die Namen der Unterzeichner*innen in die
       Schlagzeilen gebracht und die Wissenschaftler*innen damit an den Pranger
       gestellt. „Es war ein Albtraum: Obwohl wir nur eine Petition unterschrieben
       haben, was der einfachste Weg der Meinungsäußerung ist, sind wir als
       Terroristen abgestempelt worden“, erzählt der Soziologe. „In der Türkei
       kann man nicht mehr atmen, weil die Unterdrückung im Alltag überall spürbar
       ist.“
       
       Auch das Netzwerk kurdischer Akademiker*innen Kurd-Akad in Dortmund
       erreichen zahlreiche Emailanfragen von Wissenschaftler*innen aus der
       Türkei. In dem unverhältnismäßig harten Vorgehen der türkischen Regierung
       gegen die Akademiker*innen sieht die Vorsitzende von Kurd-Akad, Dersim
       Dağdeviren, einen Versuch, die Wissenschaft gefügig zu machen.
       
       ## Lauf der Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg
       
       „Wissenschaft und Bildung sind ein wichtiges Medium, mit dem man
       Gesellschaften aufklärt. Genau dagegen richtet sich das Vorgehen der
       türkischen Regierung“, sagt sie. Die massenhaften Entlassungen seien ein
       großes Problem für die Ausbildung an den Universitäten und ein großer
       Verlust für das Land.
       
       Der Kinderärztin fehlen die Worte, um die Entwicklungen in der Türkei zu
       beschreiben – für das, was dort passiere, gebe es nur noch die höchste
       Eskalationsstufe der Begriffe. „Da muss ich leider den Bezug zum Dritten
       Reich herstellen: Damals gab es ähnliche Vorgehensweisen. Es geht darum,
       denkende Menschen auszuschalten.“
       
       An dieser Stelle müssen wir über 80 Jahre zurückgreifen, um die andere
       Seite dieser Geschichte zu beleuchten. Wir befinden uns im Jahr 1933. Der
       jüdische Pathologieprofessor Philipp Schwartz (ja, ebenjener Namenspatron
       des Stipendiums, mit dem gefährdete türkische Akademiker*innen an deutschen
       Universitäten Schutz finden) reist nach Istanbul.
       
       Wie viele andere jüdische Wissenschaftler*innen im Dritten Reich wurde er
       entlassen und entkam nur knapp einer Verhaftung. In der Türkei verhandelt
       er mit Regierungsvertretern, die 30 jüdische Akademiker*innen an der neu
       gegründeten Istanbul Universität aufnehmen. Von 1933 bis 1945 emigrierten
       etwa 300 entlassene deutsche Wissenschaftler*innen in die Türkei. Sie
       halfen im türkischen Exil beim Aufbau der Universitäten der noch jungen
       Republik nach westlichem Vorbild.
       
       „Die jüdischen Akademiker, die in den dreißiger Jahren in die Türkei
       geflohen sind, gehören zu den Gründern der türkischen Universitäten.“, sagt
       Bediz Yılmaz Bayraktar, die zu Binnen- und transnationaler Migration
       forscht, und fügt nachdenklich hinzu: „Jetzt müssen wir aus diesen
       Universitäten fliehen. Es ist unglaublich, wie sich der Lauf der Geschichte
       dreht.“
       
       27 Feb 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Elisabeth Kimmerle
       
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