# taz.de -- Migrationspolitik in der ECOWAS: Die große Vision: offene Grenzen
       
       > Freizügigkeit und Handel sind Grundpfeiler der westafrikanischen
       > Wirtschaftsgemeinschaft. Freizügigkeit gibt es jedoch nicht ohne
       > Überwachung und verstärkte Polizeizusammenarbeit. Ganz nach dem Vorbild
       > der EU, die das Geld dafür liefert.
       
 (IMG) Bild: Staats- und Regierungschefs beim ECOWAS-Treffen im Dezember 2015 in Abuja
       
       „Wir brauchen einen grundlegenden Wandel in der Migrationspolitik, einen
       Paradigmenwechsel!“, erklärt Tony Luka Elumelu, der Migrationschef der
       ECOWAS, der westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft. Europa müsse
       verstehen, dass es um gegenseitige Interessen geht die Europa und Afrika
       verbinden. Hier ein Überangebot an Arbeitskraft, dort Nachfrage von
       Arbeitskraft. Hier Chancen für risikobereite Investoren – dort Kapital,
       dass nach Anlagemöglichkeiten sucht, fasst er seine These zusammen.
       
       Elumelus Thema ist die Verbindung von Migration und Entwicklung. Viele
       westafrikanische Familien hängen von Auslandsüberweisungen ab, die in
       manchen Mitgliedsstaaten bis zu 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts
       ausmachen. Die Länder Westafrikas leiden unter dem Abfluss qualifizierter
       Arbeitskräfte, dennoch bringen sie nur selten die Qualifikationen mit, die
       man auf dem europäischen Arbeitsmarkt benötigt oder gar für den Aufbau
       industrieller Produktion in Westafrika. „Im Jahre 2050 werden in der
       ECOWAS-Region etwa 600 Millionen Menschen leben, überwiegend junge
       Menschen. Wenn man die Leute zu lange in einen Käfig steckt, dann werden
       die das irgendwann nicht mehr akzeptieren“, so ECOWAS Migrationsexperte
       Elumelu.
       
       Die Region weist heute etwa 8,4 Millionen Arbeitsmigranten auf, etwa 2,8
       Prozent der Gesamtbevölkerung. Überwiegend ist es eine regionale Migration,
       manchmal aber auch in Richtung Nordafrikas und Europas. Mit der regionalen
       Integration, dem ECOWAS-Reisepass, dem visa-freien Aufenthalt und der
       Währungsunion in den frankophonen Ländern der UEMOA, der Westafrikanischen
       Wirtschafts- und Währungsunion, ist die grenzüberschreitende Arbeitssuche
       heute eine Realität für viele Westafrikaner.
       
       Nicht von ungefähr ist die ECOWAS-Direktion für den Arbeitsbereich
       Freizügigkeit und Tourismus unter der Kommission für Handel und Transport
       angesiedelt. Bei der ECOWAS ist Migration zunächst einmal kein Polizei- und
       Sicherheitsproblem, obwohl die dafür zuständige Kommission mit dem
       Arbeitsbereich Frieden und Sicherheit immer mehr damit zu tun hat. Denn in
       der Sahel-Region, dem nördlichen Streifen Westafrikas, der an die Sahara
       angrenzt, kommt zur Arbeitsmigration ein anderes Element: Mit dem
       Niedergang des Regimes von Libyens Colonel Muhammar al Gaddafi erlebte die
       Region einen ungeheuren Zufluss von Rückkehrern und Waffen aus Libyen,
       insbesondere nach Niger, was wiederum islamistischen Gruppen den Vormarsch
       in Mali und Nigeria ermöglichte. Sicherheit hat so in den letzten Jahren
       ein neues Gewicht bekommen.
       
       ## Kriminalität und Terror
       
       In den 1990er Jahren war die nigerianische Armee noch das stolze Rückgrat
       der westafrikanischen Friedenstruppe ECOMOG (ECOWAS Monitoring Group), die
       Sierra Leone und Liberia den Frieden brachte. 20 Jahre später versagt die
       nigerianische Armee im eigenen Land. Sie hat keine Chance gegen die in
       Nord-Nigeria aktive, islamistische Miliz Boko Haram, weil Geld für Sold und
       Ausrüstung in private Taschen gewandert sind. Damit hat auch die ECOWAS
       keine funktionierenden Truppen im Kampf gegen die dezentralen, mobilen
       Terrorgruppen der Boko Haram im Vierländereck Tschad, Niger, Nigeria und
       Kamerun oder gegen die Kommandos der Al-Kaida im Maghreb (AQMI) in Mali.
       
       Freizügigkeit sollte die kolonialen Grenzziehungen überwinden, so wollten
       es die Gründerväter der ECOWAS. Frieden ist nach wie vor hoch oben auf der
       Agenda. Territoriale Kriege stehen zwar nicht mehr im Vordergrund, auch
       wenn Boko Haram sich ein Kalifat im Nordosten Nigerias erschaffen wollte.
       Die Sicherheitsfragen in der Region drehen sich heute neben den
       grenzüberschreitend agierenden islamistische Gruppen auf
       grenzüberschreitende Kriminalität wie Piraterie, Drogenhandel und
       Menschenschmuggel.
       
       „Grenzüberwachung macht keinen Sinn“, sagt Friedrich Birgelen. Da ist sich
       der Referent für Flucht und Migration der deutschen Botschaft in Nigeria
       mit der ECOWAS einig. Die Region sei zu groß, die grüne Grenze zu lang. Das
       Projekt zur besseren Verwaltung von Grenzen (Better Border Management) der
       Europäischen Union, das auch eine Kooperation mit der ECOWAS beinhaltet,
       ist bei der deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GiZ)
       und der African Union in Addis Abeba angesiedelt. Da geht es um
       Landvermessung und Grenzfestlegung, aber nicht um Grenz-Kontrolle, kann man
       deren Webseite entnehmen.
       
       In einer Region, die stolz auf die Aufhebung von Grenzen ist, ist
       Grenzüberwachung schlecht zu verkaufen. Die ECOWAS ist über die
       Afrikanische Union (AU) in das Projekt miteinbezogen und vermisst die
       Grenzen zwischen Mali, Senegal und Burkina Faso. Gleichzeitig wird eine
       Grenzdatenbank aufgebaut, das Grenzinformationssystem der Afrikanischen
       Union (AUBIS). Die internationale Kooperation ist seit Jahren eher an den
       Flughäfen als an der grünen Grenze anzutreffen und beschäftigt sich dort
       mit der Aufklärung von Drogenhandel, Plagiaten und Terrorismusbekämpfung.
       Auch Menschenhandel und -schmuggel gehören zur organisierten Kriminalität,
       die internationale Polizeikooperationen einzudämmen suchen. Damit knüpft
       die Migrationspolitik an die Kriminalitätsbekämpfung an.
       
       ## Europäische Ansprüche
       
       Die ECOWAS hatte 2001 mit ihrem Migrationsdialog West Afrika (MIDWA)
       zunächst die interne Migration im Blick, um die regionale Integration
       voranzutreiben. Fünf Jahre später wurde die europäische Erwartungshaltung
       zum zweiten Grundsatz der ECOWAS-Migrationspolitik, der Euro-Afrikanische
       Migrations- und Entwicklungsprozess (der sogenannte Rabat Prozess) wurde
       2006 auf den Weg gebracht. In den Protokollen und Verträgen geht es in der
       jetzigen dritten Phase um Datenaustausch für politische Entscheidungen
       (Dakar, September 2013), Management der Grenzen (Madrid, November 2013) und
       Migranten in Krisenzeiten (Paris, April 2014). Der Prozess fährt
       zweigleisig: 1.) Verstärkung der Verbindung von Migration und Entwicklung
       mit einem multidimensionalen Ansatz: Umwelt, Wirtschaft, Soziales unter
       Einbindung der Diaspora 2.) Verhinderung von irregulärer Migration. Dazu
       gehören Grenzsicherung und Rückführungen, inklusive freiwilliger Rückkehr.
       
       Der dritte Pfeiler der ECOWAS-Migrationspolitik ist die Partnerschaft für
       Migration, Mobilität und Beschäftigung (MME), die für die Zusammenarbeit
       der westafrikanischen Staaten mit den Mitgliedsländern der EU wirbt. Ein
       weiteres regionales Forum ist der Mittelmeer Transit und Migrationsdialog
       (MTM) an dem Cape Verde, Ghana, Mali, Niger, Nigeria, und Senegal seit 2002
       teilnehmen.
       
       Der Abkommen gibt es viele, es mangelt nicht an Absichtserklärungen. Seit
       Valletta ist der Prozess richtig in Schwung gekommen, beschreibt Eleni
       Zerzelidou, die Projektmanagerin Migration und Drogenhandel der EU
       Delegation in Abuja, den Stimmungswandel nach dem Migrationsgipfel in
       Valletta, „Wir nehmen die Dinge ernster und wir sind sensibilisierter“.
       Seit dem Migrationsgipfel im maltischen Valletta treffen sich Botschafter
       und Hilfsorganisation in der EU-Delegation, um sich abzusprechen. Ihr
       Anliegen: den Gemeinschaftsplan Migration und Mobilität (CAMM, 2015
       unterzeichnet) in die Tat umzusetzen. „Noch nie habe ich soviel
       Bereitschaft gesehen, Vorhaben voranzutreiben und sich zu engagieren“, so
       Eleni Zerzelidou.
       
       Neben einer Vielzahl von Entwicklungshilfeprojekten, die seit Valletta aus
       dem Topf Treuhand-Fond Afrika (Trust Fond for Africa) bezahlt werden, läuft
       Grenzkontrolle in Westafrika bisher jedoch eher unter dem Vorzeichen Kampf
       gegen Drogenhandel und grenzüberschreitende Kriminalität.
       
       Da ist zum Beispiel die Drogen- und Kriminalitätsorganisation der
       Vereinigten Nationen (UNODC), die 1997 ganz klein mit Aufklärungs- und
       Informationskampagnen gegen den internationalen Drogenhandel anfing. Als
       Westafrika 2004 zur Drehscheibe für den Drogenhandel wurde, engagierte sich
       die Organisation zusätzlich zu Lateinamerika und Asien auch hier. Bereits
       im Jahr 2000 verabschiedete die UNODC ein Zusatzprotokoll zu
       Menschenschmuggel. In Senegal beschäftigte sich die Agentur mit der
       Sahel-Zone und der Tschadsee-Region, wo Kriminalität und Terrorismus Hand
       in Hand gehen.
       
       Mit Ausrüstung und Technologie aber habe die UNODC nichts zu tun,
       versichert deren Repräsentantin Cristine Albertin. Ihre Mitarbeiter würden
       lediglich Polizisten und Grenzbeamte sensibilisieren und ausbilden.
       Finanziert werden die Projekte vollständig von der EU. Ausgeführt werden
       sie in Nigeria in enger Kooperation mit der paramilitärischen
       Strafverfolgungsbehörde NAPTIP (National Agency for the Prohibiton of
       Trafficking in Persons). Das Projekt zum verbesserten Grenzmanagement
       (Better Border Management) der UNODC (nicht zu verwechseln mit dem Projekt
       gleichen Namens der GIZ), sei im Grunde genommen ein Projekt gegen
       Menschenhandel, so die Repräsentantin von UNODC. Es wird ebenfalls von der
       EU-Delegation finanziert.
       
       ## Datenerhebung zur Mobilität
       
       Die ECOWAS selbst delegiert die Implementierung ihrer Projekte an die IOM,
       die Internationale Organisation für Migration, die Beobachterstatus bei den
       Vereinten Nationen innehat und weltweit Migranten und Flüchtlinge
       unterstützt. 2016 wurde, ganz im Sinne des Vertrags von Rom und des
       Rabat–Prozesses, eine neue Struktur aus der Taufe gehoben: Das FFM West
       Afrika. FFM ist abgeleitet von Free Movement and Mobility: Freizügigkeit
       und Mobilität. Das Projekt beschäftigt sich mit der Erhebung von
       Migrationsdaten, dem Grenzmanagement, Arbeitsmigration und dem Kampf gegen
       Menschenhandel in Westafrika.
       
       Das Projekt wird gemeinsam von ECOWAS und EU finanziert, von der IOM
       implementiert und findet in Partnerschaft mit dem Internationalen Zentrum
       zur Entwicklung von Migrationspolitik (ICMPD) statt. Das ICMPD, mit Sitz in
       Brüssel, ist wiederum der Implementierungspartner für den Vertrag von Rom,
       der festlegt, wie der Rabat-Prozess in die Praxis umzusetzen ist. Ebenfalls
       im Boot ist die Internationalen Arbeitsorganisation (International Labour
       Organisation, ILO).
       
       Das FFM ist nun die Instanz, die Strategien und Grundsätze entwickelt, zum
       Beispiel plant, wie eine gemeinsame Grenzüberwachung aussehen, wie das
       einheitliche ECOWAS-Visum in Anlehnung an das Schengen-Visum eingeführt
       werden kann, oder wie gemeinsame Grenzkontrollen funktionieren. Es werden
       Ausbildungsmaßnahmen zu Datenerhebung von Migrationsbewegungen abgehalten,
       oder auch zu Rechten und Pflichten von Arbeitsmigranten. Das FFM Westafrika
       wird letztendlich auch die Institution werden, die den ECOWAS-Aktionsplan
       gegen Menschenhandel in die Praxis umsetzen wird.
       
       ## Überwachung im Namen der Beweglichkeit
       
       Ganz oben auf der Agenda der Direktion für Freizügigkeit steht der
       biometrische Personalausweis und das ECOWAS-Visum. Die ECOWAS-Agenda 2063
       verspricht den Bürgern der Region grenzenloses Reisen mit einer gemeinsamen
       Währung. Der ECOWAS-Pass ist schon heute Realität und die gemeinsame
       Währung der frankophonen Mitgliedsländer soll auf die anglophonen Staaten
       ausgeweitet werden.
       
       Senegal und Benin haben 2016 den neuen ECOWAS-Personalausweis eingeführt.
       10 Millionen Senegalesen haben schon einen und wurden dafür biometrisch
       erfasst. Tony Elumelu, Migrationsexperte der ECOWAS, ist sich sicher, dass
       dies ungehindertes Reisen für alle Bürger der Region garantiere, und zwar
       sicheres Reisen. Denn mit digitalen Ausweisen könnten Straftäter an den
       Grenzen festgehalten und ihre Bewegungen besser beobachtet werden. Dafür
       will die ECOWAS die Daten aller Bürger erheben und die
       Polizeizusammenarbeit digitalisieren.
       
       Das westafrikanische Polizeiinformationssystem (WAPIS), ist eine
       Kooperation von der Europäischen Union und Interpol. 2014 wurde ein Büro
       bei der ECOWAS-Zentrale im nigerianischen Abuja eröffnet. Ursprünglich
       durch die Entwicklungshilfe der EU finanziert, taucht es 2016 auf der
       Projektliste des Treuhandfonds für Afrika mit einem Budget von 5 Millionen
       Euro auf. Auf der Liste befindet sich auch eine „Schnelle Eingreiftruppe
       Sahel“ (GAR-SI SAHEL) mit einem Budget von 41.6 Millionen Euro. Diese
       Polizeieinheit wird von der spanischen Guardia Civil aufgebaut und soll
       eine integrierte Lösung für territoriale Überwachung, Migrationsmanagement,
       Schlepperbekämpfung und verbesserte Identifizierung von Personen werden und
       gleichzeitig Rückkehr und Reintegration fördern.
       
       Ein Pilotprojet der 'Schnellen Eingreiftruppe’ wird zunächst in den G5
       Sahel-Ländern (Burkina Faso, Mauretanien, Mali, Niger, Chad) und dem
       Senegal stattfinden. Ursprünglich hatten sich die G5 Sahel –Staaten zur
       Bekämpfung der Al-Kaida im Maghreb zusammengeschlossen. Die G5 Sahel, mit
       Sitz in Mauretanien, bekommt weitere 7 Millionen Euro für den Aufbau einer
       Sicherheitsakademie, die zukünftig in Mali, beim Friedenskolleg in Bamako
       angesiedelt werden soll. Einrichten sollen diese Akademie die G5 Sahel,
       ECOWAS, die Tschadsee-Kommission (Lake Chad Basin Commission), die
       westafrikanische Wirtschafts- und Währungsunion und die AU. In der
       Sicherheitsakademie sollen dann neben Grenzmanagement auch internationale
       Standards und die Einhaltung von Menschenrechten unterrichtet werden.
       
       12 Dec 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Andrea Stäritz
       
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