# taz.de -- Kleine Geschichte der Magic Mushrooms: Wie die Pilze den Sex erfanden
       
       > Sie sind nicht Pflanze und nicht Tier. Essbar sind wenige, aber die
       > interessieren uns am meisten. Ein paar Worte zum Ende der Pilzsaison.
       
 (IMG) Bild: Evolutionsgenetisch sind Pilze übrigens dem Reich der Tiere und nicht dem der Pflanzen zuzuordnen
       
       Nach den Bakterien sind Pilze die am weitesten verbreitete Lebensform der
       Erde“, schreiben die Wissenschaftler des Frankfurter „Instituts für
       integrative Pilzforschung“. Pilze finden sich in der Tiefsee und im
       Hochgebirge, in Gesteinen und im Wasser, auf und in anderen Lebewesen, in
       Wüsten, Regenwäldern und an den Polen. Sie sind artenreicher als Pflanzen,
       Fische und Säugetiere zusammen, und Schätzungen zufolge sind mindestens 90
       Prozent ihrer Arten noch unentdeckt.
       
       Essbare Pilze gibt es nur wenige, aber sie interessieren die Menschen am
       meisten. Je besser die Pilzsaison ist, desto mehr Pilzvergiftungen gibt es
       auch. Der Berliner Botanische Garten hat eine „Pilzberatung“.
       
       Ihr Leiter, Hansjörg Beyer, meint, „2016 war eher kein gutes Pilzjahr.
       Allerdings war das Frühjahr für einige Pilzarten sehr günstig. Im April gab
       es zahlreiche Käppchen-, Speise- und Spitzmorcheln. Auch Mairitterlinge und
       Schwefelporlinge waren gut vertreten. Der Frühsommer brachte dann schöne
       Sommersteinpilze und einige andere Dickröhrlinge.“
       
       Ansonsten war es jedoch zu trocken, auch wenn sich nach den Regenfällen
       Ende Oktober nun „doch so einige Pilze in der Region zeigen“. Die am
       meisten hier gesammelten Speisepilze waren wohl Maronenröhrlinge und Große
       Riesenschirmpilze, gefolgt von den Steinpilz- und Pfifferlingsarten, auch
       Speisemorcheln seien beliebt.
       
       ## Wirkung zwischen Rausch und Brechreiz?
       
       An giftigen Pilzen, mit denen die Leute häufig in die Pilzberatung kommen,
       erwähnt Hansjörg Beyer unter anderem den Grünblättrigen Schwefelkopf, den
       Karbol-Champignon, den Pantherpilz, den Grünen Knollenblätterpilz, den
       Kahlen Krempling, den Kartoffelbovisten und den Grünling.
       
       Die Pilze mit halluzinogener Wirkung, vor allem aus der Gattung der
       „Kahlköpfe“, sind in der Pilzberatungsstelle noch nicht aufgetaucht, ihr
       Leiter hatte aber schon mit Fällen zu tun, wo jemand mutwillig Fliegenpilze
       verzehrte, die Vergiftungserscheinungen hervorrufen.
       
       Die Hamburger Künstlerin Gabi Schaffner ließ sich bei ihrer Beschäftigung
       mit Pilzen von den „Betrachtungen eines Pilzforschers“ des russischen
       Dichters Wladimir Solouchin inspirieren, sie schreibt, dass es eine
       „Analogie zwischen den Gesetzen und Eigenschaften der Pilzwelt und der
       Struktur eines ‚untergründigen Denkens‘“ gibt.
       
       „Und ähnelt ein schöner, giftiger Gedanke nicht einem Fliegenpilz in allem,
       sogar noch in der Wirkung zwischen Rausch und Brechreiz? Ein ungenießbarer
       Pilz ist wie ein falscher Gedanke am richtigen Ort.“
       
       ## Deutsche zweifeln, Russen vergiften
       
       Über die genießbaren Pilze urteilt der aus Russland stammende
       Schriftsteller Wladimir Kaminer: „Die Deutschen suchen mit einem Ratgeber
       nach Pilzen, die Russen sammeln nach Gefühl. Während der Deutsche zweifelt
       und oft mit einem leerem Korb nach Hause geht, nimmt der Russe erst einmal
       alles mit.
       
       Man muss allerdings hinzufügen, dass sich die Russen auch öfter an ihren
       Pilzen vergiften. Die meisten Brandenburger halten nur Pfifferlinge und
       Steinpilze für wirklich essbar. Dutzende von Pilzsorten, die meine
       Landsleute gerne essen, nehmen sie gar nicht wahr, z. B. die merkwürdig
       aussehenden Rothaarpilze, die gar nicht als Pilze erkennbaren Smorchki –
       die Rotzpilze, sowie die Wolnuschkas, was auf Deutsch so viel wie
       ‚Aufregungspilze‘ heißt.“
       
       Statt zur Pilzberatung zu gehen, helfen sich die hier lebenden Russen
       selbst. In einem demnächst erscheinenden Buch über seine Frau schreibt
       Kaminer: „In der Pilzsaison kommt Olga jeden Tag mit einem vollen Korb aus
       dem Wald zurück, breitet die von ihr erlegten Pilze auf dem Küchentisch
       aus, fotografiert sie, postet die Fotos auf Facebook und tauscht sich über
       ihre Erfolge mit den anderen Freundinnen aus, die gleichzeitig mit ihr im
       Wald auf Pilzsuche waren. Im Herbst quillt das russische Internet über vor
       lauter Pilzfotos.“
       
       ## Erkennen von Pilzen ist eine Wissenschaft
       
       Im deutschen Internet äußern sich vor allem Pilzexperten. Das Bayrische
       Landesamt für Umwelt meldet: „Das Wissen um die in Bayern lebenden Pilze
       ist heute zum überwiegenden Teil in der Hand von ehrenamtlich tätigen
       Mykologen. Nachwuchs gibt es kaum mehr.“
       
       Und das sei bedauerlich, denn „man darf nicht vergessen, dass es sich beim
       Erkennen von Pilzen um eine Wissenschaft handelt, bei der man jahrelange
       Erfahrung und Geländekenntnis braucht, um sichere Bestimmungen durchführen
       zu können“.
       
       Der Leipziger Pilzforscher Jochen Gartz schrieb ein Buch „Halluzinogene im
       Sozialismus“, in dem es um Nachdrucke aus Büchern der Volksarmee geht, in
       denen die Magic Mushrooms als potenzielle Militärkampfstoffe behandelt
       wurden.
       
       „Durch die Tabuisierung der Halluzinogene mit Forschungsstopp in den
       westlichen Ländern sind diese komprimierten und interdisziplinären
       Darstellungen auch heute noch eine reiche Fundgrube chemisch-medizinischen
       Wissens“, meint der Autor.
       
       ## John Cage war ein großer Pilzfreund
       
       Inzwischen dürfen die Wissenschaftler im Westen jedoch wieder die
       „psychedelische Wirkung“ von Rauschpilzen erforschen, u. a. ein Team um den
       Mykologen Roland Griffith an der John-Hopkins-Universität. Die Wirkung der
       halluzinogenen Pilze halte zwar nur wenige Stunden an, doch noch ein Jahr
       nach dem Pilztrip konnten die US-Forscher einen persönlichkeitsverändernden
       Effekt der Pilze feststellen.
       
       Die Persönlichkeit werde durch sie vor allem in Hinsicht auf „Offenheit“
       dauerhaft verändert, berichtete Griffith in der Fachzeitschrift Journal of
       Psychopharmacology. Dies sei besonders verblüffend, da die „Offenheit“ mit
       zunehmendem Lebensalter normalerweise abnehme.
       
       Ein Forscherteam um David Nutt vom Imperial College London fand eine andere
       Wirkung von psylocibinhaltigen Pilzen. „Da wir von bewusstseinserweiternden
       Drogen sprechen, gingen wir davon aus, dass die Substanz die
       Gehirnaktivität ankurbelt. Doch genau das Gegenteil war der Fall“, schrieb
       Nutt in der Fachzeitschrift Proceedings of the National Academy of
       Sciences.
       
       Nicht nur, dass die Droge die Aktivität einer Gehirnregion herabsetzt, auch
       dass es sich dabei ausgerechnet um den präfrontalen Cortex handelt,
       verblüffte die Forscher, die den Pilz deswegen laut der Zeitschrift Focus
       als Antidepressivum nutzen wollen, denn Depressive weisen genau in diesem
       Hirnbereich eine Hyperaktivität auf.
       
       Der depressive Komponist John Cage war ein großer Pilzfreund, er lebte
       lange Zeit alleine im Wald – und komponierte, spielte jedoch auch mit dem
       Gedanken, Pilzforscher zu werden. In einem Interview meinte er: „Wenn ich
       gewusst hätte, wie es im Musikgeschäft läuft, wäre ich auch Pilzforscher
       geworden. Inzwischen weiß ich allerdings, dass es auch unter Pilzen wie im
       Musikgeschäft zugeht.
       
       ## Mache Pilze siedeln auch auf Pilzen
       
       Die Mikrobiologin an der Jenaer Universität Kerstin Voigt forscht über
       Jochpilze, dabei geht es ihr um deren Schwanken zwischen Symbiose und
       Parasitismus. „Rein evolutionsgenetisch sind Pilze dem Reich der Tiere,
       nicht dem der Pflanzen zuzuordnen“, sagt sie. Es sind quasi „stationäre
       Tiere“.
       
       Dabei stellen die von ihr untersuchten Jochpilze entwicklungsbiologisch
       gesehen innerhalb der Pilze ein Bindeglied zu sich geschlechtlich
       fortpflanzenden Lebewesen dar. Ihre Vertreter leben parasitisch auf anderen
       Pilzen, auf Pflanzen und in Menschen mit schwachem Immunsystem.
       
       „Die Mechanismen, mit denen die Pilze ihren jeweiligen Wirt dazu
       ‚überreden‘, sie auf ihm leben zu lassen und nicht gleich zu vernichten,
       sind dieselben, die sie auch zur geschlechtlichen Fortpflanzung
       untereinander befähigen“, meint die Mikrobiologin.
       
       Indem die Urpilze auf Pilzen lebten, also ihre nächsten Verwandten
       ausnutzten, „erfanden sie den Sex“. Denn sie begannen, untereinander
       genetisches Material auszutauschen – sozusagen als Gastgeschenk, um den
       Wirt milde zu stimmen. Damit legten sie zum einen den Grundstein für ihre
       eigene Verbreitung.
       
       Im Lauf der Jahrhunderte überlebten sie in teils parasitischen, teils
       symbiotischen Lebensgemeinschaften. In Gemeinschaft mit Algen, nämlich als
       Flechten, konnten sie die Gipfel des Himalaja stürmen. Zum anderen wiesen
       sie den Weg aus der wenig flexiblen ungeschlechtlichen Reproduktionsmisere
       hin zur Artenvielfalt höher entwickelter Lebewesen durch geschlechtliche
       Fortpflanzung.
       
       22 Nov 2016
       
       ## AUTOREN
       
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