# taz.de -- Bundeskanzlerin Angela Merkel: Die Verwandlung
       
       > Angela Merkel setzte lange pragmatisch auf Machterhalt. Vor einem Jahr
       > entwickelte sie sich zur entscheidungsstarken Kanzlerin.
       
 (IMG) Bild: Frohgemut und mit einem Liedchen auf den Lippen lässt sich alles besser schaffen
       
       Angela Merkel ist vielen Deutschen fremd geworden. Dieses Gefühl teilen
       nicht nur CSU-Wähler oder hasserfüllte Pegidisten, die „Volksverräterin“
       brüllend durch Dresdens Innenstadt ziehen.
       
       Nein, die Entfremdung geht tiefer. Sie zieht sich hinein bis in das
       aufgeklärte Bürgertum. Viele konservativ grundierte Menschen, aber auch
       WählerInnen von SPD oder Linkspartei verstehen diese Kanzlerin nicht mehr.
       
       Wie groß der Unterschied zwischen früher und heute ist, lässt sich an den
       Vorwürfen festmachen, die der alten Merkel von Leitartiklern und der
       Opposition gemacht wurden. Merkel sei entscheidungsschwach, hieß es früher,
       sie lasse die Dinge gerne laufen, ohne sich auf eine Seite zu schlagen. Sie
       sei eine Mechanikerin der Macht, kühl und pragmatisch, aber ohne Vision
       fürs große Ganze. Außerdem richte sich Merkel im Zweifel sowieso nach der
       Mehrheitsmeinung, ob es nun um die Eurokrise, um ihre Zustimmung zum
       Mindestlohn oder zum Atomausstieg gehe.
       
       Dieses Merkel-Bild wirkt heute wie aus der Zeit gefallen. Fast ein Jahr ist
       es her, dass die Kanzlerin Tausende Flüchtlinge aus Ungarn nach Deutschland
       holte. Seither gibt es eine neue Merkel zu besichtigen, eine, die sich
       nicht mehr damit zufrieden gibt, den Status Quo zu verwalten. Die den
       verwöhnten Deutschen echte Veränderungen zumutet. Eine Merkel, die
       plötzlich emotional argumentiert. Und die einen offensiven Humanismus
       vertritt, der mit kühlem Pragmatismus nicht mehr viel zu tun hat.
       
       ## Alles bleibt so wie es ist
       
       Merkels Erfolg beruhte immer auch darauf, dass sie der zufriedenen, gut
       gestellten Mittelschicht in Deutschland suggerierte, es könne alles so
       bleiben, wie es ist. Mochten Banken wanken, EU-Staaten in die Verschuldung
       rutschen und die Jugendarbeitslosigkeit in Europa hochschießen, uns betraf
       das nicht – oder höchstens mittelbar, wenn es um Hilfsprogramme und
       Rettungsschirme ging. Deutschland wirkte wie ein beschaulicher Luftkurort
       in einer unsicherer werdenden Welt, und Merkel war die Bürgermeisterin.
       
       Wie erfolgreich das Versprechen auf Nicht-Veränderung sein kann, bewies die
       Kanzlerin bei der Bundestagswahl 2013. Ihr Programm: keine
       Steuererhöhungen, dafür ein bisschen mehr Rente für einige wenige Mütter –
       damit errang sie fast die absolute Mehrheit. Merkel, das war der
       personifizierte Ruhepol, authentisch und sympathisch präsentiert, und damit
       konnte die im Großen und Ganzen sorgenfreie bürgerliche Mitte wirklich gut
       leben.
       
       In diese Stimmungslage platzte die sogenannte Flüchtlingskrise, die eine
       Krise für die Geflüchteten ist, aber ganz sicher keine für dieses Land –
       und zwar als maximale Irritation. Das Elend der Welt stand plötzlich auf
       dem Bahnsteig des Münchner Hauptbahnhofs. Und Merkel entpuppte sich für
       viele als Ehefrau, neben der man jahrelang aufgewacht ist und die eines
       Morgens bekannt gibt, mit dem Yogalehrer um die Welt zu reisen. Sie
       offenbarte Seiten ihres Charakters, die bisher keinem aufgefallen waren.
       
       Und ein Merkmal gehörte nicht dazu: Entscheidungsschwäche. In rasendem
       Tempo traf Merkel damals eine historische Entscheidung, unter Druck gesetzt
       von den Zwängen des 4. September 2015: Etwa 2.000 Flüchtlinge, die bis
       dahin unter katastrophalen Bedingungen im Untergeschoss des Budapester
       Ostbahnhofs kampiert haben, marschieren einfach los. Sie wollen zu Fuß zur
       Grenze nach Österreich, die allermeisten dann weiter nach Deutschland.
       
       ## Orbáns Coup
       
       Da ersinnt Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán einen schlauen Coup. Am
       Abend lässt er die Flüchtlinge mit Bussen zur Grenze fahren. So schafft er
       sich das Problem vom Hals und macht es zu dem Österreichs und Deutschlands
       .
       
       Innerhalb weniger Stunden muss Merkel entscheiden: Entlastet sie
       Österreich, indem sie zusagt, Menschen aufzunehmen? Oder plädiert sie
       dafür, die Geflüchteten zu stoppen, notfalls mit Gewalt? Ihren Entschluss
       fällt sie zwar umgeben von ihren Beratern, aber doch allein – SPD-Chef
       Sigmar Gabriel unterrichtet sie lediglich in einem Telefonat, den
       CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer, der in seinem Ferienhaus weilt, erreicht
       sie überhaupt nicht.
       
       Was wäre passiert, hätte Merkel dem Nachbarn Österreich Hilfe verweigert?
       Die denkbaren Varianten sind unschön bis fürchterlich. Hätte Österreich den
       Geflüchteten die Einreise verweigert, hätten Tausende an der Grenze in
       Regen und Schlamm festgesteckt. Ungarns Polizei war schon zuvor mit
       Wasserwerfern und Knüppeln gegen Geflüchtete vorgegangen. Wahrscheinlich
       hätten wütende Flüchtlinge versucht, illegal über die grüne Grenze zu
       kommen, rennend, überforderte Grenzer hinterher. Wahrscheinlich wäre es zu
       Gewalt gekommen.
       
       Jagdszenen vor laufender Kamera, diese Bilder fürchtete man im Kanzleramt.
       Ähnlich unerfreulich wäre es gewesen, hätte Österreich die Menschen in
       Richtung Deutschland weitergeschickt. Die Einreise verweigern? Dann hätte
       sich Ähnliches an der bayerischen Grenze abgespielt. Wasserwerfer und
       gepanzerte Hundertschaften gegen übernächtigte und verzweifelte Menschen,
       meist Männer, aber auch ein paar Frauen und Kinder.
       
       Wie hätte die Welt über ein solches Deutschland geurteilt? Merkel
       beantwortete die Fragen für sich – und bewies echte Führung.
       
       ## Ins Offene und Ungewisse
       
       Dadurch erschien sie plötzlich in einem neuen Licht. Das Tastende,
       Suchende, das ihre Kanzlerschaft prägte, war angesichts des Ansturms der
       Verzweifelten keine Option. Auch der wohltemperierte Kompromiss, für den
       Merkel immer auch stand, hatte sich erledigt. Es ging nur: entweder – oder.
       Merkel wählte zwischen dem chaotischen, aber menschenfreundlichen Zustand,
       den das Außerkraftsetzen der Dublin-Regelung bedeutete – und dem düsteren
       Chaos der Abschottung. Sie traf die richtige Entscheidung.
       
       Sie bleibt bei dieser Linie, auch dann, als in Sonderzügen immer mehr
       Menschen in München ankommen, mehr als 20.000 allein am 5. und 6.
       September. Merkel lässt die Tür nach Deutschland offen.
       
       Die kühle Pragmatik, die Merkel bis dahin unterstellt wurde, ist wie
       weggeblasen. Merkel, die gerne Sachverhalte vom Ende her denkt, geht ins
       Offene und Ungewisse, auch weil sie nicht anders kann. Auch etwas anderes
       ist zu beobachten. Plötzlich zeigte die Kanzlerin auf nie da gewesene Art
       und Weise Emotionen, immer wieder.
       
       Dem palästinensischen Mädchen Reem Sawihl erklärte sie im Juli 2015 bei
       einer Bürgerdiskussion noch, Deutschland könne nicht alle Flüchtlinge
       aufnehmen. Reem fing an zu weinen. 2016 klingt Merkel ganz anders. Das
       berühmte Zitat „Wir schaffen das“ wurde zum Slogan ihrer Kanzlerschaft.
       
       Da war aber zum Beispiel auch ein Satz, den sie Mitte September ihren
       Kritikern sagte: „Wenn wir anfangen, uns jetzt noch zu entschuldigen dafür,
       dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das
       nicht mein Land.“ Emotional klang das, aufgewühlt, fast störrisch. Die
       Kanzlerin, die sich stets als Kanzlerin aller Deutschen beschreibt,
       definierte plötzlich, welchem Deutschland sie sich verpflichtet fühlt.
       
       ## Funken im Ozean
       
       In der Gefühlswelt Merkels, sonst ein still ruhender Ozean, blitzten
       plötzlich ab und zu Funken auf, wie Sonnenstrahlen auf einer Welle. Zum
       Beispiel auf dem CDU-Parteitag in Karlsruhe, da war es gerade drei Wochen
       her, dass Horst Seehofer sie auf offener Bühne bei der CSU gedemütigt
       hatte. Merkel packte ihre Partei bei ihren christdemokratischen Wurzeln und
       begründete ihre liberale Linie in der Flüchtlingspolitik mit der „von Gott
       geschenkten Würde jedes einzelnen Menschen“. Solches Pathos war Merkel
       eigentlich fremd.
       
       Auch eine letzte, sehr beliebte Vermutung über Merkel wurde im vergangenen
       Jahr widerlegt. Merkel passe ihre Politik der Mehrheitsmeinung an, siehe
       Mindestlohn oder Atomausstieg. In der Flüchtlingspolitik jedenfalls ist das
       nicht der Fall.
       
       Bei aller berechtigten Kritik an dem EU-Türkei-Abkommen, das brüchig ist
       und humanitären Ansprüchen Hohn spricht: Merkel hielt sehr lange einen
       liberalen Kurs durch – trotz der wachsenden Skepsis in der Bevölkerung,
       trotz populistischer Angriffe von allen Seiten. Auch nach den sexuellen
       Attacken in der Kölner Silvesternacht ließ sie sich nicht dazu verleiten,
       die Straftaten Einzelner auf ganze Völker zu übertragen.
       
       Die traurige Wahrheit ist, dass die neue Merkel bei den meisten Deutschen
       schlechter ankommt als die alte. Ihre Beliebtheitswerte sind abgerutscht,
       in der CSU ist sie verhasst, ihre eigene Partei zerrissen. Das Absurde an
       den oft gehörten Rufen, Politiker müssten Haltung zeigen, ist, dass Merkel
       sich genau dadurch viele Feinde schafft.
       
       29 Aug 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ulrich Schulte
       
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