# taz.de -- Unsichere Zukunft in Libyen: Die Spitzel sind zurück
       
       > Geldmangel, Stromausfälle und Entführungen erschweren das Leben in
       > Tripolis. Seit der IS aufgetaucht ist, überlegt man sich gut, was man
       > sagt.
       
 (IMG) Bild: Migranten nach ihrer Rettung am Strand von Tripolis
       
       Tripolis taz | Mohamed Sheibi mustert die Tischnachbarn erst einmal von
       Weitem, ehe sich der 35-jährige Ladenbesitzer setzt. Die Szenerie im Café
       L’Aurora am Algerien-Platz in der libyschen Hauptstadt Tripolis scheint
       seit Jahrzehnten unverändert. Männer palavern vor Cappuccino und
       Wasserpfeife über die neuesten Gerüchte. Abgesehen von den sozialen
       Netzwerken findet der politische Diskurs in Cafés und Moscheen statt. Den
       Politikern, mit denen die UNO über ein Friedensabkommen spricht, traut
       niemand mehr über den Weg.
       
       Seit dem Sturz von Langzeitdiktator Muammar al-Gaddafi vor fünf Jahren
       wurde im L’Aurora nicht mehr geflüstert. Heute klagen die Informanten der
       Geheimdienste und Polizisten aus Angst vor den bärtigen Revolutionären am
       Steuer von Taxis oder in Cafés am westlichen Stadtrand ihr Leid über die
       neuen Herrscher.
       
       Die Expansion des „Islamischen Staats“ (IS) in Libyen hat alles verändert.
       Milizen, die den IS bekämpfen und die neue Einheitsregierung unterstützen,
       suchen Hände ringend nach dem Fachwissen der alten Geheimdienstler. Dabei
       hatten Kommandeure wie Abdulrauf Kara vor drei Jahren das Isolationsgesetz
       mit Waffengewalt durchgesetzt, mit dem alle von öffentlichen Positionen
       ausgeschlossen wurden, die seit 1969 in höheren Stellungen für den Staat
       gearbeitet hatten.
       
       Auch am Algerien-Platz vermeidet man politische Themen; die Spitzel sind
       zurück, sind sich viele sicher. Mohamed Sheibi versucht vergeblich, in der
       Abendhitze einen kühlem Kopf zu bewahren. „Man weiß vor allem nicht, über
       wen man kein falsches Wort verlieren darf: die Islamisten, das alte Regime
       oder die Revolution.“
       
       ## Ein gesellschaftlicher Werteverfall
       
       Laut wird es, sobald jemand von einer der geschlossene Banken kommt oder
       das geschäftige Treiben im Viertel mit einem der bis zu zehnstündigen
       Stromausfällen zum Erliegen kommt. Hauptthema sind jedoch die Entführungen,
       mit denen Gangs vor allem in reicheren Gegenden wie Gargaresh Millionen
       verdienen. Neben politischen Aktivisten werden zurzeit allein in Gargaresh
       mehr als ein Dutzend Kinder reicher Geschäftsleute vermisst. Es ist nicht
       der einzige bis vor zwei Jahren in dem konservativen und von
       Familienstrukturen geprägten Libyen undenkbare Tabubruch.
       
       Jeder Nacht legen von den Stränden der libyschen Hauptstadt Schlauchboote
       nach Italien ab, am nächsten Tag zeugen die angeschwemmten Leichen von von
       der Gleichgültigkeit der menschenschmuggler. Viele von ihnen sind kaum
       volljährig.
       
       „In den Straßen von Tripolis riskiere ich auch mein Leben, ich fahre,
       sobald ich das Geld zusammen habe“ sagt ein Arbeiter aus Ghana in der
       Whisky Straße. Karas Salafisten begehen hier immer wieder Überfälle, um den
       illegalen Verkauf von Alkohol zu unterbinden.
       
       Karas Rada-Truppe ist die wohl am besten organisierte Miliz in Tripolis und
       dennoch chancenlos gegen die lokalen Mafiabanden, die ihre Geschäftsmodelle
       in dem jeweiligen Machtvakuum anpassen.
       
       ## Eine halbe Million Euro für ein entführtes Kind
       
       Nach der Evakuierung der meisten Ausländer haben die Kriminellen nun
       wohlhabende Familien im Visier. Bankangestellte geben nach Gewaltandrohung
       oder für eine hohe Summe die Kontodaten wohlhabender Kunden heraus, an
       deren Fersen sich dann Gangs heften. Für die entführten Kinder werden bis
       zu einer halben Million Euro gezahlt.
       
       Trotz der täglichen Staus und des scheinbar normalen Straßenbilds arbeitet
       kaum jemand mehr als ein paar Stunden am Tag. Entweder gibt es keinen Lohn
       oder Frauen und Kinder müssen zu ihrer Sicherheit zum Einkaufen oder in die
       Schule gefahren werden.
       
       Vor der Arab Bank am Märtyrerplatz stehen mehr als 100 Bankkunden. Die
       Benzingeneratoren in der Nachbarschaft brummen, Strom- und Wasserausfall
       bei 42 Grad. An diesem Tag droht der Unmut in Gewalt umzuschlagen. Nur noch
       200 Dinar, knapp 130 Euro, können abgehoben werden. Nachdem der Libysche
       Dinar 70 Prozent seines Werts verloren hat, stehen immer mehr Familien vor
       dem Ruin.
       
       ## Kein Geld für die Hochzeit der Tochter
       
       Die Bankangestellten haben sich hinter den Gittern des Haupteingangs
       verschanzt, weil ihnen das Bargeld ausgegangen ist. Dass der Tresor trotz
       der medienwirksam eingeflogenen neuen Geldscheine leer sein soll, gibt den
       ungeduldigen Familienvätern den Rest, sie versuchen, das Gitter
       herauszureißen.
       
       Die Einheitsregierung von Premierminister Fajes Serradsch hat die Menge vor
       der Bank längst abgeschrieben, auch wenn der Regierungschef immer wieder
       die Bürger vor laufenden Kameras Hände schüttelnd um Geduld bittet, wie
       heute auf dem Algerien-Platz am L'Aurora.
       
       „Die Einheitsregierung soll gehen“, schreit Ibrahim Ali. „Serradsch wurde
       von der UNO geschickt und kann nicht mal das Geld verteilen, das aus
       England geschickt wurde.“ Der 43-jährige Ölingenieur hat noch 20 Dinar in
       der Tasche, und die Hochzeit seiner Tochter steht bevor. In zwei Wochen
       müssen 30.000 Dinar her, Verwandtschaft aus ganz Tripolis wird erwartet.
       Die Hochzeit abzusagen, lehnt seine Frau strikt ab. Zu wichtig ist der
       Zusammenhalt der Familiennetzwerke, ohne sie ist man erledigt. Auch Ali
       wird sich Geld von seinen Brüdern leihen.
       
       ## Angst vor einem Bürgerkrieg
       
       „Wir warten ab, was weiter passiert“, sagt Sheibi trocken. Serradsch und
       Rada-Kommandeur Kara werden nun von den aus Bengasi und Sirte vertriebenen
       Islamisten bedroht. Wissam bin Hamid, Chef von Ansar al-Scharia, ruft zu
       Bürgerprotesten gegen die „Ungläubigen“ auf, der oberste Mufti, Sadiq
       Ghariani, fordert gar von Rada, festgenommene IS-Kämpfer frei zu lassen.
       
       An den Tischen am Algerien-Platz fällt nach dem Besuch von Serradsch immer
       wieder das Wort Bürgerkrieg. Ibrahim Ali fürchtet das Schlimmste. „Es ist,
       als wären diese eigentlich so friedliche Stadt und ihre Bürger unsichtbar,
       fest im Griff von Bewaffneten, die uns ihren Willen aufzwingen.“
       
       31 Jul 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Mirco Keilberth
       
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