# taz.de -- Die Wahrheit: Schicksalhafte Türen
       
       > Tagebuch einer Alltagsreisenden: egal ob im Zug oder im Aufzug. Überall
       > kann das Leben plötzlich eine Wendung in eine ganz andere Richtung
       > nehmen.
       
       Neulich auf dem Weg zum Bahnhof führt mich der Weg an dem Brunnen vorbei,
       vor dem sich die Boheme meines Kiezes zum morgendlichen Frühschoppen
       versammelt. „Dit kannste so oder so sehen“, philosophiert der örtliche
       Cheftrinker, „aba wenn dit nich dazwüschenjekomm wär, hät ick ’n janz
       anderet Lebn jehabt.“ In seinem Ton liegt Zufriedenheit, die Kumpel nicken
       bestätigend.
       
       Darüber nachsinnend, was sein Schicksal wohl verändert hat, besteige ich
       den Zug von Berlin nach Hamburg. Im Abteil herrscht bahnuntypischer Friede,
       niemand brüllt neben mir im Zentimeterabstand ultrawichtige Business-Deals
       ins Mobiltelefon, der Imbisswagen offeriert Heiß- oder Kaltgetränke, das
       Zugpersonal heitere Stimmung.
       
       Bei der Einfahrt in den Hamburger Hauptbahnhof stauen sich die
       Ausstiegswilligen im Gang, als Schlusslicht der Mann mit dem Getränkewagen.
       Millimeterweise schiebt sich die Schlange auf den überfüllten Bahnsteig.
       Plötzlich zischendes Türenschließen, begleitet von ruckartiger Zugbewegung
       und kollektiver Schnappatmung. Ich sehe in ungläubige Gesichter, die
       entgeistert auf die draußen vorbeiziehende gleichgültige Alsterkulisse
       starren.
       
       Zwei Französinnen erkundigen sich vorsichtig: „Was this Hambourg?“ – „Oui,
       oui, this is Hambourg. Hambourg is big,“ beschwichtige ich halbherzig,
       während sich das Szenario des Action-Klassikers „Die Entführung der U-Bahn
       Pelham 123“ in meiner Vorstellung entfaltet. Sind wir abgekoppelt vom
       Restzug? Wird unser Wagen ungebremst durch die Norddeutsche Tiefebene
       rasen?
       
       Der Getränkewagenmann, dessen Basisstation in stetig wachsende Ferne rückt,
       flucht vor sich hin, aber glücklicherweise brettern wir nicht führerlos in
       die Nordsee, sondern halten am Dammtor. Ich rate den Französinnen zur
       Rückfahrt mit der S-Bahn, aber denen ist alles egal – Hauptsache, Hamburg.
       Der Getränkemann nimmt sich ihrer an. Völkerverständigung, Freundschaft,
       vielleicht wird ihr Leben, nachdem sich eine Zugtür zwischen sie und ihre
       unmittelbare Zukunftsplanung geschoben hat, jetzt wie bei meinem
       Brunnenphilosophen ganz anders verlaufen?
       
       Tags darauf zurück in Berlin winken mir die Jungs aus der Nachbarwohnung
       aus dem steckengebliebenen Aufzug zu. Jemand hat die Feuerwehr gerufen, ich
       biete Notversorgung durchs Türgitter an. Dem Einsatzleiter wird das Warten
       auf den Notdienst zu langweilig. „Wochenende. Dit kenn wa schon, dit dauert
       wieder zwee Stunden, bis die hier aufschlagen.“ Kurzerhand bricht der
       Behelmte den Kellerraum zur Fahrstuhltechnik auf. Die freigelassenen
       Nachbarjungs feiern anders als die Zugreisenden an ihrem vorgesehenen
       Ausstiegsort den Tag der offenen Tür, dafür entgeht ihnen möglicherweise
       eine aufregende Lebensveränderung.
       
       Mich beschäftigt seitdem das Verhältnis von Türen zum Schicksal. Erst
       einmal erstelle ich eine kleine Erinnerungsnotiz an mich selbst:
       Brunnenphilosoph fragen!
       
       21 Jul 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Pia Frankenberg
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Zug
 (DIR) New York
 (DIR) Mecklenburg-Vorpommern
 (DIR) Wahlkampf
 (DIR) Fußball-EM 2024
 (DIR) England
 (DIR) Flirten
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Die Wahrheit: Dinner mit Obama
       
       Tagebuch einer New-York-Heimkehrerin: Wer taucht im Restaurant auf, in dem
       man gerade sitzt? Mister President höchstpersönlich!
       
 (DIR) Die Wahrheit: Kiffen, Sex und Fernsehen
       
       Tagebuch einer Schlafgestörten: Nicht nur als Schlummerhilfe ist der
       US-Staat Maine dem Bundesland Mecklenburg-Vorpommern überlegen.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Yoga für Merkel
       
       Tagebuch einer Wahlkampfbeobachterin: Berlin ist zuplakatiert. Bald dürfen
       die Insassen wählen. Aber zuvor müssen sie Aushänge angucken.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Gene Hackman beim Fussball
       
       Tagebuch einer Taxifahrerversteherin: Die EM-Euphorie spült Erinnerungen an
       fast vergessene Stadionbegegnungen hoch.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Die Pub-Schlange
       
       Tagebuch einer Englandfahrerin: Im Barnaby-Country wird magenharte
       Kneipenkost zum schalen Bier gereicht. Dafür ist der Schmaus umsonst!
       
 (DIR) Die Wahrheit: Ein peinlicher Visitenkartentausch
       
       Tagebuch einer Vercheckten: Triffst du in einer Airportlounge auf einen
       coolen Mann, solltest du nicht zu heißohrig handeln.