# taz.de -- EMtaz: Sport und Politik in Frankreich: Zidane schweigt
       
       > Zinedine Zidane ist nicht nur der bedeutendste Fußballer Frankreichs. Er
       > schließt auch alle ein – mit Ausnahme der Rechtsextremen.
       
 (IMG) Bild: „Die Regelübertretung, die Grenze des Machbaren zu sprengen, ist Teil der großen Erzählung“: Skulptur vor dem Centre Pompidou in Paris
       
       In seinem Essay „Zidane schweigt“ beschreibt Frédéric Valin den Werdegang
       der französischen Nationalmannschaft ab dem Titelgewinn 1998. Zu diesem
       Zeitpunkt wird sie zur Ikone des französischen Multikulturalismus – das
       neue Frankreich präsentiert sich als weltoffen, multiethnisch und
       zukunftszugewandt. Ihren Endpunkt findet die Entwicklung im [1][Debakel von
       Knysna], als endgültig die Neue Rechte die Deutungshoheit übernimmt. Dieser
       Diskurswechsel wird auch den bis jetzt andauernden Aufstieg des Front
       National begünstigen. Valin zeigt anhand der Geschichte der équipe
       triolore, dass und wie Sozialgeschichte und den Fußball zusammen gehen. Ein
       Auszug.
       
       Zinedine Zidane spricht sehr wenig. Was er ist, was er bedeutet, das lässt
       er Andere sagen. Er ist das wortlose Zentrum der Erzählungen um sich herum,
       eine Hemmingway-Figur. Es sind die Anderen, die viele Worte um ihn machen.
       
       Zidane ist ein postmoderner Held; einer, der mühelos Widersprüche in sich
       vereint, Projektionsfläche für alle. Verschiedene Konzepte von Identität
       fallen in ihm scheinbar mühelos zusammen: Er ist der Migrant, der dem Land
       seiner Vorfahren verbunden bleibt, indem er dort immer wieder humanitäre
       Projekte unterstützt und öffentlich seine Zuneigung zu Algerien bekundet;
       er ist aber auch der Vorzeigefranzose, einer de beliebtesten compatriotes,
       der 1998 nach seinem Tor sein Trikot küsst und zu dessen Feier man ein
       Plakat auf den Champs Elysées aufhängt. Er ist bekennender Muslim, lebt
       seine Religion aber nicht öffentlich. Er ist das technische Genie am Ball,
       ein brillanter Vorbereiter, der aber in den wichtigen Spielen seine Tore
       macht, und gleichzeitig ein unbeherrschter Hitzkopf, der sich in seiner
       Karriere zehn Platzverweise eingefangen hat.
       
       Auch der Markt weiß nicht so recht, in welches Segment er ihn stecken soll:
       Er hat Werbung gemacht für Leader Price, den französischen Aldi, für Dior
       und Audi, alle nur denkbaren Zielgruppen also.
       
       Fußballanalysten sind sich unschlüssig. Taktikexperte Rene Maric wundert
       sich im Laufe seiner Analyse zu Zidane, er sei zwar ein sehr guter,
       keinesfalls aber ein außergewöhnlicher Spieler gewesen. Sein Goalimpact
       beispielsweise – eine Möglichkeit, Spielstärke zu messen – liegt bei 136,
       unter dem von Robbie Keane. Alle Spieler in den europäischen Top 40 kommen
       heute auf bessere Werte.
       
       Selbst Maric traut seiner Analyse nicht: Er kommt zu dem Schluss, dass
       Zidanes Fähigkeiten wie auch seine Auswirkung auf die Mannschaft „schwierig
       zu beschreiben“ seien. Was Maric ihm als Schwäche attestieren würde –
       Mängel in taktischer und strategischer Hinsicht – sähen andere genau als
       seine Stärken an.
       
       ## Der Mann der Überraschungen
       
       Woran sich jeder andere Spieler messen lassen muss, zählt für Zidane nicht.
       Zahlen sind Schall und Rauch. Wer ihn beschreibt, muss sich an seine Aura
       halten, nicht an Statistiken.
       
       Es gibt einen Film über Zinédine Zidane, er trägt den unambitionierten
       Titel „Zidane – un portrait du 21e siècle“. 17 Kameras folgen Zidane
       während eines Spiels gegen Villareal, es ist die konsequenteste Umsetzung
       des Starkults, die das Fernsehen seit George Best gesehen hat: Fußball als
       Einzelperformance.
       
       Und man sieht anderthalb Stunden nichts, gar nichts. Der Film lebt von der
       behaupteten Großartigkeit seines Protagonisten und führt diese Behauptung
       gleichzeitig fort, ohne den mindesten Erkenntnisgewinn. Was ihn einzigartig
       macht, ist nur dieses: dass es sowas bisher noch nicht gab. Dass bisher
       kein anderer Filmemacher 17 Kameras im Bernabéu aufstellen durfte.
       
       Tatsächlich dürfte der Zauber Zidanes auf einem Anachronismus beruhen. Er,
       der häufig als großer Stratege gesehen wird, als genialer Spielmacher und
       Impulsgeber, der die Fäden des Spiels in der Hand hält, sorgt stets und
       zuverlässig für eines: Überraschungen. Die fließende Eleganz seiner
       Bewegungen, sein Hang zu ausgefallenen, untypischen Aktionen am Ball, seine
       stoische, undechiffrierbare Mimik ließen zwar immer vermuten, dass er etwas
       sieht und ahnt und weiß, was kein anderer zu sehen und ahnen und wissen in
       der Lage ist; aber beweisen lässt sich das nicht.
       
       Zidane hat dem gläsernen Fußballer, der – verfolgt von Kameras, medizinisch
       engmaschig überwacht, analysiert bis in den letzten Laufweg – seinen Mythos
       zurückgegeben; den Mythos, dass das Spiel Regeln folgt, die mit dem
       Verstand allein nicht zu begreifen sind. Der meistzitierte Satz von Sepp
       Herberger lautet, die Leute gingen zum Fußball, weil sie nicht wüssten, wie
       es ausgeht. Zidane zu sehen hieß auch, nicht zu wissen, was demnächst
       passiert.
       
       Zu diesem Mythos gehört, wie zu jeder Heldensaga, der Sieg im Schlusskampf.
       Es sind die Tore in den Finals gegen Brasilien und Leverkusen, die ihn zu
       einem der Großen machen: Im entscheidenden Moment derjenige sein, der ein
       Schicksal besiegelt, das ist die Eigenschaft eines griechischen Gottes.
       Sein größter Sieg aber wird sein Abgang werden.
       
       ## WM Finale 2006, Olympiastadion
       
       „Zidane blickte in den Himmel von Berlin und dachte an nichts.“ So beginnt
       Jean-Philippe Toussaint sein kurzes Buch über die Melancholie von Zidane.
       Selten wird über einen Vorfall auf dem Fußballfeld derart viel geschrieben
       werden wie über den Kopfstoß, diese „entscheidende, brutale, prosaische und
       romaneske Tat“ (Toussaint).
       
       Und zahlreich sind die Erklärungen, als würden alle Erklärungen, alle
       Sichtweisen, die Zidane ermöglicht, in einer einzigen schillernden,
       ungreifbaren Geste zusammenfallen. Und natürlich hat niemand den letzten
       großen Moment in Zidanes Karriere mitbekommen. Es geschieht nebenbei, weit
       ab des Hauptgeschehens: ein Nebenscharmützel. Die perfekte Leerstelle, die
       anschließend jeder mit Sinn zu füllen versuchte. Man ist derart eingenommen
       von dieser Tat, dass kaum jemand sich mehr dran erinnert, wer später dann
       den Elfmeter verschießt. Trezeguet an die Latte übrigens.
       
       Im Deutschen Fernsehen kommentiert Reinhold Beckmann das Finale, und mit
       seiner unnachahmlichen Art gelingt ihm ein Querschläger von gewaltiger
       Schönheit. In der 104. Minute steht Zidane allein am Elfmeterpunkt, als ihn
       eine Flanke Sagnols erreicht: Er setzt den Kopfball zentral aufs Tor, knapp
       unter die Latte; Buffon reißt den Arm nach oben und klärt. Beckmann dazu:
       „Er hätte sich ein Denkmal gesetzt, ein Riesendenkmal, direkt auf den
       Champs Élysées.“
       
       Was ihm dann ein tatsächliches Denkmal eingebracht hat – nicht eben direkt
       auf dem Champs Elysées, aber immerhin vor dem Centre Pompidou, später in
       Doha, der Kopfstoß gegen Materazzi nämlich – das hat Beckmann so erlebt:
       
       „Irgendwas ist auf der anderen Seite passiert. Irgendeine Nickligkeit, ich
       hoffe, nicht irgendeine Tätlichkeit. Scheint Materazzi zu sein. War Zidane
       da im Spiel? Buffon geht jetzt auf die französischen Spieler zu, beschimpft
       sie – so, da hamwers nochmal. Zidane – Warum hat er das nötig. Dieser große
       Spieler! Hier in der Verlängerung, so ein Aussetzer.“
       
       ## „Gerede von der Stange“
       
       Beckmann ist derart aufgeregt, dass er auch mit den Namen ganz
       durcheinander kommt: „Da knallen die Synapsen in die falsche Richtung!
       Mann, Zidane, Du kennst das Geschäft seit so vielen Jahren. Lässt sich
       verbal ein bisschen provozieren, und dann knallen die Sicherungen durch.
       Eine große Fußballkarriere geht so unrühmlich zu Ende. Was hat ihn da
       geritten. Es ist nicht das erste Mal in der großen Fußballbiografie von
       Zinedan. Voller Absicht hinein, auf die Brust. Wie kann man sich so seinen
       Abschied zerstören.“
       
       Beckmanns Kommentierung hat sich immer dadurch ausgezeichnet, „Gerede von
       der Stange“ (Frank Baade) zu sein: Man weiß bei Beckmann immer schon
       vorher, dass er gerne geahnt hätte, was da noch so kommen möge, und vor
       allem, dass er dem Zuschauer eine Ahnung davon vermitteln wollte, dass er
       es ahnte. Beckmann ist ein Poser am Mikrofon, der sich in der Rolle des
       Regisseurs gefällt. Er, der mit der Erfindung von Ran und ranissimo die
       moderne deutsche Fußballberichterstattung geprägt hat wie kein anderer,
       sieht Fußball als den Rohstoff, aus dem er sein Stück inszenieren kann.
       
       Sein Textbuch aber geht nie übers Vorabendserienniveau hinaus. Beckmann
       vergisst die zauberhafteste Eigenschaft des Fußballs: das immer, immer,
       immer etwas Unvorhergesehenes passieren kann. Deswegen fällt es Beckmann
       nicht auf, dass er Opfer einer Projektion wird: Er ist es, der das Geschäft
       schon seit Jahren kennt und darauf auch etwas hält. Mit der Routine eines
       Büroangestellten spult er sein Pensum runter bis zum Feierabend, der hier
       wäre: das Überreichen der Trophäe, Konfettiregen, Nahaufnahmen jubelnder
       Gesichter, ein paar verstreut auf dem Rasen herumliegende Verlierer, hier
       und da ein tröstender Widersacher („eine schöne Geste“).
       
       ## Zidanes „coup de boule“
       
       Die Geste Zidanes hingegen hat etwas Erlösendes: Die Komplexität der
       Kommunikation auf dem Feld löst sich mit einem Moment auf, und die
       stereotypen Muster, die normalerweise zur Deutung herangezogen werden,
       greifen nicht mehr. Beckmann ist unfähig zu verstehen, warum Zidanes „coup
       de boule“ Teil eines Mythos werden wird.
       
       Und das kann Beckmann in diesem Moment nicht verzeihen: dass Zidane, der
       immer wie ein Wesen jenseits des Gewöhnlichen, abseits der Norm behandelt
       wird, sich auch jetzt, in dieser feierlichen Stunde, wie eines verhält. Die
       Regelübertretung, die Grenze des Machbaren zu sprengen, ist Teil der großen
       Erzählung, die rund um Zidane gebaut wurde; dass er diese in seiner Figur
       angelegte Möglichkeit in einer Weise nutzt, die von den Medien nicht
       vorhergesehen wurde, ist sein eigentliches Verbrechen.
       
       Zidane hätte es wahrscheinlich vorgezogen, seinen Akt schlicht stehen zu
       lassen; aber dieses Mal ist der Druck zu groß, um zu schweigen und nur den
       Körper sprechen zu lassen. Seine Strategie ist die des Gambits: Er
       entschuldigt sich dafür, ein schlechtes Vorbild gewesen zu sein, weil man
       das von ihm erwartete. Dann, als seine Gesprächspartner beruhigt sind,
       macht er klar, dass Materazzi seine Schwester beleidigt habe und er das
       nicht stehen lassen konnte. Unentschuldbar und unausweichlich in einem: Je
       nachdem, wie man sich der Sache nähert, wird man zu anderen Ergebnissen
       kommen.
       
       Die Franzosen jedenfalls sind nicht der Meinung, Dramatisches gesehen zu
       haben; in Umfragen nach dem Finale vergeben ihm 60 Prozent seiner
       Landsleute, 52 Prozent geben an, seine Motive zu verstehen. Selbst Jacques
       Chirac, Präsident der Republik, empfängt ihn auf dem Balkon des Hôtel
       Crillon mit den Worten: „Was ich Ihnen überbringen will in diesem
       intensivsten Moment Ihrer Karriere, der vielleicht auch der schwerste ist,
       ist die Bewunderung und die Zuneigung der ganzen Nation, auch ihren
       Respekt.“ Unten rufen die Leute „Zizou président!“
       
       ## Freude über die Römer
       
       Zidane schließt alle ein, mit Ausnahme der Rechtsextremen. Eines der
       wenigen politischen Statements Zidanes gilt Le Pen; hätte der die Wahl 2002
       gewonnen, er wäre aus der französischen Nationalmannschaft zurückgetreten.
       
       Der Kopfstoß ist dann der Moment, Zidane als schlechten Einwanderer zu
       brandmarken: Das rechtsextreme Blatt Minute titelt voller Schadenfreude
       „Ciao, voyou“. Der katholische Publizist und FN-Parteigänger Romain Marie
       freut sich über die grandiosen Römer, die jetzt ihren Triumph im Circus
       Maximus feiern wie zu den besten Zeiten. „Es wird nur Zidane der Afrikaner
       fehlen, in Ketten wie damals Vercingetorix der Gallier.“
       
       An Zidanes Mythos kratzen sie damit nicht. Erst [2][das Fiasko von Knysna]
       sollte ihr Triumph werden.
       
       3 Jul 2016
       
       ## LINKS
       
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