# taz.de -- Roman über die Krise: In spanischer Hitze
       
       > Von Madrid in die Vergangenheit: „Das Kleid meiner Mutter“ von Anna
       > Katharina Hahn verwischt Grenzen zwischen Realität und Vorstellung.
       
 (IMG) Bild: Nicht geschrumpft: Demonstration der „Empörten“ in Madrid.
       
       Drei Tage nachdem Anita ihre Eltern tot in deren Schlafzimmer aufgefunden
       und die beiden Leichen angezogen und in zwei Sesseln drapiert hat, geht sie
       erneut in den Raum. Die beiden Toten sind verschwunden, so glaubt Anita
       jedenfalls. Die Kleidungsstücke liegen als Haufen auf den Polstern der
       Sessel. „Mit spitzen Fingern hob ich das purpurne Kleid meiner Mutter hoch,
       um es zusammenzulegen. Da sah ich sie. Winzig klein, glatt, rosig leuchtend
       und die Blöße keusch verdeckt von einem Zipfel ihres Unterkleids. Sie war
       nur noch so groß wie eine Puppe.“
       
       Diese Szene, so hat Anna Katharina Hahn es in einem Interview erzählt, habe
       sie tatsächlich geträumt. Eine kleine Novelle habe sie daraus machen
       wollen. Ganz offensichtlich hat der Stoff sich ausgeweitet. Das Ergebnis
       liegt nun als 300 Seiten starker Roman vor uns: ein Buch der wilden
       Fantasien und Verstellungen, in dem die Grenzen zwischen Vorstellung,
       Realität und Irrwitz immer wieder verwischt werden.
       
       Anna Katharina Hahn hat sich in ihren beiden ersten bemerkenswerten Romanen
       als eine Spezialistin für die weit verästelten Ängste und Neurosen der
       deutschen Mittelschicht erwiesen, deren Epizentrum vielleicht nicht ganz
       zufällig im wohlsituierten und grundbürgerlichen Stuttgart zu finden ist,
       wo auch die Autorin selbst lebt. Nun verlagert Hahn die Gegenwartshandlung
       ihres Romans nach Spanien – um letztendlich wieder im Schwabenland
       anzukommen.
       
       Madrid im Jahr 2012. Die Wirtschaftskrise ist auf dem Höhepunkt. Eine ganze
       Generation von jungen Menschen blickt in eine ungewisse Zukunft. Das, was
       sie gelernt oder studiert haben, ist nicht gefragt. Überhaupt sind sie
       nicht gefragt. Zu ihnen gehört Anita, die Icherzählerin. Ihr Bruder Ángel
       lebt bereits in Deutschland, angeblich, um in Berlin an der Universität zu
       lehren. In Wahrheit schlägt er sich als Bauarbeiter durch. Anita ist zurück
       in die Wohnung ihrer Eltern, Oscar und Blanca, gezogen. Menschen mit Stil
       und Bildung. Der Vater war Literaturredakteur bei einer großen spanischen
       Tageszeitung. Und nun liegen sie tot in ihren Betten, an diesem heißen
       Augusttag des Jahres 2012.
       
       ## Geschickt hergestellte Ambivalenz
       
       Von diesem Augenblick an verlässt Anna Katharina Hahn Stück für Stück den
       Boden des realistischen Erzählens – und sorgt gleichzeitig dafür, dass
       ihrem Roman die Bodenhaftung nicht abhanden kommt. Die geschickt
       hergestellte Ambivalenz übt einen großen Reiz aus. Zum einen muss Anita
       irgendwie weitermachen. Zum anderen aber wird die Welt der Mutter zu einem
       Paralleluniversum.
       
       Anita informiert nicht etwa Behörden oder ihren Bruder vom Tod der Eltern.
       Sie zieht sich Blancas Kleid über und schlüpft auf diese Weise in die Haut
       und in das Leben der Mutter. Wenn sie das Kleid trägt, ist sie nicht mehr
       sie selbst, auch nicht für ihre Umwelt. Anita wird Blanca. Und taucht ein
       in ein schwer überschaubares Geflecht von Liebesbeziehungen und
       historischen Verwicklungen. Es bedarf einer technischen Könnerschaft und
       einer klaren und zugleich luziden Sprache, um all diese Erzählstränge
       beisammenzuhalten. Anna Katharina Hahn kann das. Wo sie anfangs nur
       Verweise gestreut, Spuren ausgelegt hat in Richtung der grimmschen Märchen
       und einer schwarzen Schauerromantik, übernimmt dieser Motivkomplex
       zunehmend die Regie.
       
       Das hat auch zu tun mit einer der zentralen Figuren des Romans: Der
       Schriftsteller Gert de Ruit, der im Leben beider Eltern offenbar eine nicht
       unwesentliche Rolle gespielt haben muss, ist eine mythische Figur. Ein Foto
       existiert von ihm nicht, abgesehen von jenem, auf dem er während einer
       Tagung der Gruppe 47 aus dem Bild huscht. Nur sein gestiefelter Fuß (!) ist
       noch auf dem Bild.
       
       ## Anitas Hirngespinste
       
       De Ruit, Jahrgang 1930, offenbar Sohn deutscher Eltern, in Spanien lebend,
       ist das von Anna Katharina Hahn lustvoll zusammen gesetzte kollektive Gefäß
       von Wünschen und Ängsten. Die auf verschlungenen Wegen geretteten
       Aufzeichnungen seines biografischen Hintergrundes sind es schließlich auch,
       die zurück nach Deutschland führen, zurück ins Bürgertum, zurück in den
       Nationalsozialismus.
       
       Das klingt, zugegeben, hanebüchen. Ist es aber nicht. Es ist konsequent und
       hoch literarisch. Und es lässt jederzeit die Möglichkeit offen, als ein von
       der spanischen Hitze befeuertes Hirngespinst der überforderten und
       ausgebrannten Anita gelesen zu werden. Es muss Anna Katharina Hahn einen
       großen Spaß gemacht haben, ein großes Feld aus literarischen Anspielungen
       und Referenzen anzulegen. Ludwig Tieck trifft Will Vesper trifft Roberto
       Bolaño.
       
       Nicht alle Pfade in diesem Roman, zugegeben, führen zu einem Ziel. Aber
       alles in allem erzeugen sie eine Atmosphäre: Das dunkle Unbehagen, das sich
       im Madrid der Jetztzeit wie in der schwäbischen Vergangenheit einstellt,
       hat eine gemeinsame Ursache, die letztendlich auch mit Politik zu tun hat,
       mit moralischer Verwahrlosung. Darum ist „Das Kleid meiner Mutter“ auch
       mehr als nur ein Spiel.
       
       3 Jul 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Christoph Schröder
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2024
 (DIR) Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2024
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