# taz.de -- Bedrohung von Politikern in England: Die angstfreie Zeit ist vorbei
       
       > Die aggressive Stimmung gegen Politiker nimmt zu. Vor allem Frauen werden
       > von Neonazis, Islamisten und militanten Linken massiv bedroht.
       
 (IMG) Bild: Frauen sind besonders häufig Ziel von Bedrohungen
       
       LONDON taz | „Tod den Verrätern, Freiheit für Britannien!“ rief Thomas
       Mair, der mutmaßliche Mörder der britischen Politikerin Jo Cox, als er am
       Samstag dem Haftrichter vorgeführt wurde und seine Personalien bestätigen
       sollte. Wenn noch jemand Zweifel gehegt hatte an der politischen Motivation
       des 52-Jährigen, der nach seiner Tat von Polizisten auf offener Straße
       überwältigt wurde, so räumte er selbst sie mit seinem Auftritt aus. Mair
       bleibt in Untersuchungshaft.
       
       Die Suche nach den Motiven des Mörders hat in Großbritannien eine breite
       Debatte ausgelöst. Mair unterhielt seit vielen Jahren Kontakte zu
       Neonazigruppen – seine politische Ausrichtung ist also klar. Er hatte auch
       psychische Probleme und war erst am Abend vor dem Mord mit seiner Suche
       nach einem Therapietermin erfolglos geblieben – das deutet auf ein anderes
       gravierendes Problem hin: den eklatanten Mangel an psychologischer und
       psychiatrischer Versorgung im staatlichen britischen Gesundheitssystem.
       Cox’ politisches Engagement wiederum konzentrierte sich auf
       Syrienflüchtlinge und humanitäres Eingreifen zugunsten der syrischen
       Zivilbevölkerung – damit wurde sie für noch ganz andere zum Hassobjekt.
       
       Diese Vielschichtigkeit zeigt sich auch in der Trauer. Die Cox-Familie hat
       einen Spendenfonds eingerichtet, 450.000 Pfund (550.000 Euro) hat er in nur
       zwei Tagen gesammelt. Das Geld geht an drei Gruppen: einen Verband zur
       Unterstützung Vereinsamte, eine Organisation zum Kampf gegen rechte
       Radikalisierung und schließlich die in Syrien aktiven „Weißhelme“.
       
       Jenseits der Motivsuche beim Täter verweist Cox’ Mord auf die Verrohung des
       politischen Diskurses insgesamt und die besondere Gefährdung von politisch
       aktiven Frauen. Der Schottland-Referendumswahlkampf 2014 und der
       Labour-Führungswahlkampf 2015 gingen beide mit Hetzkampagnen von
       Schottland-Nationalisten und Labour-Linken gegen politische Gegner einher,
       oft explizit sexistisch. Rassistische und islamistische Gewalt sind
       Dauerphänomene. Der Brexit-Referendumswahlkampf habe den Hass gegen die
       politische Klasse insgesamt salonfähig gemacht, analysieren Kommentatoren
       jetzt.
       
       ## Aggressionen gegen Frauen
       
       Jo Cox hatte vor ihrem Tod „zunehmende Feindseligkeit und Aggression“ gegen
       weibliche Parlamentsabgeordnete ausgemacht, berichtete ihre Labour-Kollegin
       Anne Turley. Eine andere Abgeordnete, die anonym bleiben wollte, sagte am
       Wochenende, sie habe Premierminister Cameron sowie den Protokollchef des
       Parlaments im Mai auf das Problem zunehmender Unsicherheit für weibliche
       Abgeordnete in ihren Wahlkreisbüros hingewiesen. Es gehört zu den Aufgaben
       aller Abgeordneten in Großbritannien, regelmäßige öffentliche Sprechstunden
       in ihren Wahlkreisen abzuhalten, und Cox wurde auf dem Weg zu ihrer
       Sprechstunde von Mair abgepasst, angeschossen und niedergestochen. Viele
       Kolleginnen haben seit Cox’ Tod enthüllt, dass ihnen Ähnliches angedroht
       worden sei, mal von Rechtsradikalen, mal von Islamisten, mal von militanten
       Linken.
       
       Als die 34-jährige Labour-Abgeordnete Jess Phillips aus Birmingham, die vor
       ihrer Wahl ins Parlament Opfer häuslicher Gewalt betreute, im Mai [1][die
       Kampagne „Reclaim the Internet“ gegen Onlinesexismus] startete, erhielt sie
       600 Vergewaltigungsdrohungen in einer Nacht, berichtete sie. In einem
       Zeitungsbeitrag über Jo Cox schrieb sie jetzt: „Jo, ich und viele andere
       weibliche Abgeordnete erhielten regelmäßig Drohungen und Beschimpfungen per
       E-Mail und über soziale Medien. Meist war es am schlimmsten, wenn wir gegen
       Frauenfeindlichkeit oder Rassismus auftraten – oder, leider, wenn wir über
       die eigene Partei sprachen. Meistens haben wir das abgetan; richtig Angst
       hatten wir nie.“ Die angstfreien Zeiten sind jetzt vorbei.
       
       Versuche, den Mord an Jo Cox mit der Brexit-Kampagne in Verbindung zu
       bringen, werden dagegen von beiden Lagern empört zurückgewiesen. Man dürfe
       Cox’ Tod nicht politisch instrumentalisieren, heißt es unisono. Die
       „Remain“- und „Leave“-Wahlkämpfe bleiben offiziell suspendiert, was sich
       allerdings nicht auf Medienauftritte und Interviews bezieht. Es ist
       unwahrscheinlich, dass der Wahlkampf vor dem Abstimmungstag 23. Juni
       wieder richtig Fahrt aufnimmt, obwohl die wichtigste TV-Debatte, mit einer
       Öffentlichkeit von 6.000 Studiogästen live im Wembley-Stadion am Dienstag,
       erst noch bevorsteht. Die Umfragen an diesem Wochenende zeigen: Der
       Vorsprung für die EU-Gegner schrumpft leicht.
       
       Nur die extreme Rechte versucht weiter ungeniert, den Mord für ihre Zwecke
       auszuschlachten. Die Neonazigruppe „National Action“ erklärte den Täter
       jetzt auf Twitter zum Brexit-Märtyrer: „#VoteLeave, lasst die
       Selbstaufopferung dieses Mannes nicht vergeblich gewesen sein. Jo Cox hätte
       Yorkshire mit noch mehr Untermenschen gefüllt.“
       
       19 Jun 2016
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://www.reclaimtheinternet.com/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dominic Johnson
       
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