# taz.de -- Kolumne Cannes Cannes: Spuk und Schabernack
       
       > Beschäftigt man sich nicht mit der Vergangenheit des Kinos, sieht dessen
       > Zukunft auch in Cannes nicht besonders rosig aus.
       
 (IMG) Bild: Beim Dreh zu „Aquarius“ von Kleber Mendonça Filho
       
       An der Croisette zu sitzen und einfach nur die Passanten zu beobachten, ist
       in Cannes eigentlich schon unterhaltsam genug. Neben den extravagant
       gekleideten Flaneuren sind dabei die unscheinbar auftretenden Spaziergänger
       im Grunde die Interessanteren, geben sie mehr Rätsel auf. Sind das ganz
       normal gekleidete Leute – oder tarnen sie ihre Exklusivität geschickter als
       die anderen?
       
       Um Exklusivität der schwindenden Art geht es unter anderem im Film
       „Aquarius“, mit dem sich der brasilianische Regisseur Kleber Mendonça Filho
       am Wettbewerb beteiligt. Seine Protagonistin Clara harrt als pensionierte
       Musikkritikerin in einem bürgerlichen Wohnkomplex in Recife aus: Clara, mit
       gefasster Würde vom brasilianischen Schauspielstar Sônia Braga gespielt,
       ist die letzte Bewohnerin des in den vierziger Jahren gebauten
       zweigeschossigen Gebäudes.
       
       Alle anderen Wohnungen wurden von einer Gesellschaft aufgekauft, die ein
       großes Bauprojekt plant. Was bisher am Widerstand Claras scheitert. Sie
       weigert sich zu verkaufen, für sie hängt viel zu viel Leben und
       Familiengeschichte an dem Ort.
       
       „Aquarius“ mischt die Melancholie von Claras Erinnerungen mit Elementen des
       Psychothrillers, da der Unternehmer, der das Haus abreißen will, immer
       perfidere Mittel anzuwenden beginnt, um sein Ziel zu erreichen. So gewinnen
       gegen Ende die Thrilleranteile die Oberhand. Das ist nicht immer ganz
       stimmig zusammengefügt, gipfelt aber in einem wuchtigen Schlussbild.
       
       ## Gelegentliche Drogenverkäufe
       
       Zwischen Gesellschaftsporträt und Korruptionskrimi wiederum schwankt
       Brillante Mendozas philippinischer Wettbewerbsfilm„Ma’Rosa“. Rosa (Jaclyn
       Jose), eine Kioskbetreiberin in Manila, die sich mit gelegentlichen
       Drogenverkäufen über Wasser hält, wird eines Tages bei der Polizei
       verpfiffen. Um sich und ihren Mann auf Kaution freizubekommen, versucht sie
       verzweifelt, das nötige Geld auf- und einzutreiben.
       
       Mendoza erzählt diesen Plot mit einer hektisch am Raum zerrenden Handkamera
       über Details, die sich erst allmählich erschließen, bis zur chaotischen
       Organisation des bestechlichen Polizeiapparats, dem Rosa und ihre Familie
       ausgeliefert sind. Die rohen Gestaltungsmittel passen beinahe zu gut zu
       dieser rauen Sozialkritik, die ihren Figuren nah ist, ohne den Blick
       sentimental einzutrüben.
       
       Nach so viel Realismus kann ein bisschen Spuk und Schabernack nicht
       schaden. Die Reihe „Cannes Classics“ bietet dazu Gelegenheit mit
       restaurierten Fassungen von kanonisierten Filmen unterschiedlichster
       Genrezugehörigkeit.
       
       ## Opulente bewegte Gemälde
       
       Kenji Mizoguchis klassische Gespenstergeschichte „Ugetsu Monogatari“ aus
       dem Jahr 1953 war etwa in gestochen scharfen Schwarz-Weiß-Bildern zu
       bewundern, in denen man selbst die dezenten Nebel über dem Wasser bestens
       erkennen konnte. Und Mario Bavas psychedelischer Science-Fiction-Horror
       „Terrore nello spazio“ (Planet der Vampire) von 1965 leuchtete in schönstem
       Pop-Rot und -Grün.
       
       Wichtiger als die Handlung sind bei dieser verhängnisvollen
       Weltraumexpedition nämlich die abstrakten Formen in kräftigen
       Elementarfarben, mit denen Bava weniger Schrecken verbreitet als opulente
       bewegte Gemälde schafft. Man kann sich kaum daran sattsehen – und -hören:
       Der elektronische Soundtrack ist in seinem freizügigen Gebrauch von
       Synthesizern ebenfalls sehr erfreulich.
       
       Nostalgisch sind solche Erfahrungen keinesfalls. Wie sagte der Regisseur
       Nicolas Winding Refn – er selbst steht mit dem Film „Neon Demon“ im
       Wettbewerb – bei seiner Präsentation von Bavas Film doch so treffend: Wenn
       man sich nicht mit der Vergangenheit des Kinos beschäftigt, sieht dessen
       Zukunft auch nicht besonders rosig aus.
       
       19 May 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Tim Caspar Boehme
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Filmfestival
 (DIR) Goldene Palme
 (DIR) Filmfestival
 (DIR) Schwerpunkt Filmfestspiele Cannes 
 (DIR) Filmfestival
 (DIR) Filmfestival
 (DIR) Schwerpunkt Filmfestspiele Cannes 
 (DIR) Schwerpunkt Filmfestspiele Cannes 
 (DIR) Schwerpunkt Filmfestspiele Cannes 
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Resümee Filmfestspiele von Cannes: Die Realität soll es richten
       
       Die Cannes-Jury hat mit Ken Loach einen alten Mann geehrt – trotz vieler
       jüngerer KollegInnen. Die blieben immerhin nicht ganz unberücksichtigt.
       
 (DIR) Preisverleihung in Cannes: Überraschung unter Palmen
       
       Der Brite Ken Loach hat seine zweite Goldene Palme für das Sozialdrama „I,
       Daniel Blake“ erhalten. Maren Ade, die als Favoritin gehandelt wurde, ging
       leer aus.
       
 (DIR) Kolumne Cannes Cannes: Wir haben die Sixties ausgelöscht
       
       Fast zum Schluss gibt es die nicht ganz so guten Beiträge. Der dänische
       Regisseur Nicolas Winding Refn musste sich sogar kräftige Buhrufe anhören.
       
 (DIR) Kolumne Cannes Cannes: Allegorie auf das Gefängnis Familie
       
       Familien- und Geistergeschichten sowie Sozialdramen dominieren den
       Wettbewerb. Für Letztere sind wie immer die Brüder Dardenne zuständig.
       
 (DIR) Kolumne Cannes Cannes: Rumpeln im Dunkeln
       
       Grusel, der sich konstant steigert: Kristen Stewart sieht in Assayas
       „Personal Shopper“ Gespenster. Und Almodóvar recycelt Motive aus seinen
       Filmen.
       
 (DIR) Kolumne Cannes Cannes: Eine Schwäche für Menschenfleisch
       
       Im Horrorfilm „Grave“ bekommt eine Vegetarierin Appetit auf ihre
       Mitmenschen. Und in „Paterson“ macht Jim Jarmusch einen auf Star Wars.
       
 (DIR) Kolumne Cannes Cannes: Eine deutsche Komödie
       
       „Toni Erdmann“ erregt Aufsehen. Völlig zu Recht. So schön gelacht wird
       selten in Kinos, noch dazu bei einem deutschen Film.
       
 (DIR) Kolumne Cannes Cannes: Schlafzimmer, Hämmer, Kannibalen
       
       Die Filmauswahl in Cannes ist groß genug, damit man auch mal was verpassen
       kann. Auf der Couch mit „Victoria“ und Ken Loach.