# taz.de -- Debatte Flüchtlingspolitik: Macht die Grenzen auf!
       
       > Stellen Sie sich mal vor, Deutschland entwickelt sich zur Diktatur. Sie
       > selbst entgehen nur knapp der Verhaftung und machen sich auf die Reise.
       
 (IMG) Bild: Sie hatten Glück. Ihr ganzes Leben. Qua Geburt. Nur deshalb ist dieses Szenario so weit hergeholt
       
       Haben Sie sich mal die Mühe gemacht und sich das so richtig vorgestellt? So
       mit allem Drum und Dran? Zugegeben, das ist nicht einfach, denn in
       Deutschland geht es uns gut. Aber versuchen Sie es einfach mal. Es ist ja
       nur ein gedankliches Experiment.
       
       Also. Es ist Bürgerkrieg. Was könnte der Auslöser sein? Nehmen wir einfach
       mal an, Angela Merkel ist völlig durchgedreht. Aus irgendeinem Grund ist
       Merkel nicht mehr die, die sie war, die Rationale, die Politikerin der
       kleinen Schritte, die Frau der Vernunft.
       
       Merkel will jetzt Macht. Macht haben und Macht anhäufen. Und sie will diese
       Macht auf keinen Fall wieder verlieren. Deshalb hat sie im Verborgenen alle
       Sicherheitsorgane im Staat hinter sich gebracht. Militär, Polizei, BND
       setzen jetzt bedingungslos ihren Willen um. Aus Angst, sonst im Gefängnis
       zu landen wie die vielen anderen, die etwas Falsches gesagt oder getan
       haben. Die nette Bäckerin von nebenan zum Beispiel. Irgendwie ist da jetzt
       der Laden zu. Ob das mit diesem „Merkel muss weg“-Schild zu tun hat, das
       die Frau ins Schaufenster gehängt hatte?
       
       Ihnen passt das alles natürlich nicht. Sie sind ein Linker, ein Demokrat.
       Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Menschenrechte, Frieden, Gerechtigkeit
       sind Ihnen wichtig. Also gehen Sie auf die Straße. Allerdings ist die
       Stimmung auf diesen Demos ganz schön rau. Nicht wie früher, als Campact
       Kostüme verteilte und alle schwarze CO2-Ballons für den Klimaschutz steigen
       ließen.
       
       ## Plötzlich überall Polizei
       
       Jetzt ist überall Polizei. Und die geht richtig hart gegen die
       Demonstranten vor. Auch gegen die friedlichen. Knüppel, Tränengas,
       Gummigeschosse. Als einer Bekannten von Ihnen der Arm gebrochen wird –
       einfach so, sie hatte nichts Unerlaubtes getan –, bekommen Sie ein bisschen
       Angst. Aber Sie sind auch wütend. „So nicht“, denken Sie. „Nicht nach
       allem, was wir in Deutschland schon erlebt haben.“ Und Sie gehen weiter auf
       Demos, fangen an, sich im Privaten zu organisieren.
       
       Dann fallen die ersten Schüsse. Einfach so. Die Polizisten eröffnen das
       Feuer. Die toten Körper der Demonstranten in der ersten Reihe sacken
       übereinander. Sie laufen davon, verstecken sich in einer Seitenstraße. Ihr
       Herz schlägt bis zum Hals.
       
       Von da an läuft alles ab wie in einem Film: die konspirativen Treffen, die
       Hausdurchsuchungen, die Razzien und Verhaftungen. Immer mehr Menschen, die
       Sie kennen, landen im Knast. Oder verschwinden. Andere bewaffnen sich.
       Eines Tages kommen Sie von der Arbeit nach Hause und finden Ihre Wohnung
       verwüstet vor. Sie wissen, jetzt müssen auch Sie hier weg, wie so viele vor
       Ihnen.
       
       ## Es waren einfach zu viele Deutsche
       
       Hastig packen Sie ein paar Sachen. Gut, dass Sie keine Kinder haben, denken
       Sie. Das würde alles noch viel komplizierter machen. Aber wohin sollen Sie
       gehen? Die Grenzen zu den Nachbarländern sind dicht. Österreich,
       Tschechien, Polen, Dänemark, Holland, Belgien, Luxemburg, Frankreich,
       Schweiz – auch alle anderen europäischen Staaten haben die Grenzen schon
       vor Monaten abgeriegelt. Es waren einfach zu viele Deutsche, die kamen.
       
       Dann gibt Ihnen jemand einen Tipp: Afrika. Wenn Sie es bis in den Maghreb
       schaffen, können Sie sich auf dem Landweg nach Südafrika durchschlagen. In
       Kapstadt wohnt Ihre Tante Barbara. Und die nimmt Sie gern auf. Das hat sie
       am Telefon immer wieder beteuert.
       
       Ein Schleuser, so heißt es, könne helfen. Die 10.000 Euro, die er verlangt,
       haben Sie von Ihren Eltern bekommen. Unter Tränen haben Sie sich von ihnen
       verabschiedet. Ob Sie die beiden jemals wiedersehen? Auf der voll gepackten
       Ladefläche eines Transporters schaffen Sie es bis Sizilien. Die Reise
       dauert Wochen. In Marsala besteigen Sie einen kaum seetüchtigen Kahn. Wie
       Sie die Küste von Tunesien erreicht haben, erinnern Sie kaum. Zu
       schrecklich war, was während der Überfahrt geschah. Nacht für Nacht wachen
       Sie schweißgebadet auf. Die Schreie derer, die im Sturm über Bord gingen
       und ertranken, gellen Ihnen im Ohr.
       
       An der Küste Tunesiens angekommen, machen Sie sich mit Tausenden anderen
       auf den Weg. Aber an der Grenze zu Algerien ist plötzlich Schluss. Andere
       harren hier schon seit Wochen in Zelten aus. Die Versorgung der vielen
       Menschen wird von einigen unermüdlichen Freiwilligen organisiert. Aber das
       reicht nur notdürftig aus. Man will Sie nicht weiterlassen. Jeder Versuch,
       die Grenze zu stürmen, wird gewaltsam niedergeschlagen.
       
       ## Angst vor Christianisierung
       
       Die umliegenden arabischen Staaten fürchten angesichts der vielen
       Flüchtlinge die Christianisierung des Morgenlandes. Und dass der Ansturm
       ihre Systeme zum wirtschaftlichen und politischen Kollaps führt. Seit eine
       Horde alkoholisierter, deutscher Männer am Tag des islamischen Opferfestes
       in Marrakesch angeblich zahlreiche muslimische Frauen belästigte, hat sich
       die ablehnende Haltung gegenüber christlichen Flüchtlingen noch mal
       verschärft.
       
       Also haben die anderen Staaten Tunesien finanzielle Hilfe zugesichert, wenn
       es die ankommenden Flüchtlinge aufhält und wieder zurück nach Europa in
       dort errichtete Lager überführt. Für jeden deutschen Flüchtling, der
       zurückgeschickt wird, soll einer direkt aus Deutschland eingeflogen werden.
       Bislang läuft der Tauschhandel ziemlich schleppend an. Wie es jetzt
       weitergehen soll? Sie wissen es nicht.
       
       Okay. Cut.
       
       ## Es ist nichts passiert
       
       Sie können aufatmen. Es ist nichts passiert. Merkel ist die, die sie immer
       war, und Ihnen geht es gut. Sie müssen nicht fliehen, und niemand will
       Ihnen etwas tun. Mit anderen Worten: Sie hatten Glück. Schon Ihr ganzes
       Leben lang. Qua Geburt. Nur deshalb ist dieses Szenario so weit hergeholt.
       
       Aber Sie gehören, wie auch ich, zu denjenigen, die anderen – realen –
       Menschen das oben beschriebene Schicksal bescheren. Die Hilfe unterlassen
       und notdürftig an andere delegieren. Weil Sie um Ihr eigenes Wohlergehen
       fürchten. Und weil Sie sich vor einem Stimmungsumschwung, angestachelt von
       rechten Scharfmachern, fürchten.
       
       Das ist unmenschlich und kaltherzig. Das ist unterlassene Hilfeleistung.
       Dafür schäme ich mich. Sorgen wir dafür, dass die verdammten Grenzen wieder
       offen sind.
       
       21 Apr 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Marlene Halser
       
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