# taz.de -- Essay zum Roma-Tag: Europas missachtete Minderheit
       
       > Sinti und Roma sind spezifischen Vorurteilen ausgesetzt. Diese werden
       > benutzt, um ihre Bevormundung und Ausgrenzung zu rechtfertigen.
       
 (IMG) Bild: Feier von Roma in Bukarest zum 160. Jahrestag ihrer Befreiung von der Sklaverei am 20. Februar 2016
       
       Zur Solidarität mit Sinti und Roma, der am wenigsten geachteten Minderheit
       Europas, wird am 8. April aufgerufen. Der Romaday mit einer Kundgebung am
       Brandenburger Tor will an die Ressentiments erinnern, denen die Angehörigen
       dieses Volkes überall ausgesetzt sind. Partizipation und Gleichberechtigung
       als Bürger werden angemahnt. Schutz und Hilfe für asylsuchende Roma, für
       die es keine sicheren Drittstaaten gibt, sind erbeten, das Ende der
       stereotypengeleiteten Feindseligkeit und Vorurteile wird erhofft. In einer
       Zeit zunehmender Entsolidarisierung und Intoleranz, im Crescendo
       bürgerlicher Rohheit und Fremdenfeindschaft ist das alles so berechtigt wie
       eh und jeh, aber schwer durchzusetzen.
       
       Einst hieß es „Zigeunerplage“, und die Diskriminierung und Verfolgung von
       Sinti und Roma kulminierte im Völkermord unter nationalsozialistischer
       Ägide. Das NS-Regime hatte sich die überlieferten rassistischen und
       sozialen Ressentiments zu eigen gemacht und führte die seit Langem gängige
       Politik gegen die Minderheit weiter, bis die Ausgrenzung in den Genozid
       mündete. Aber diese Tatsache drang erst spät ins kollektive Gedächtnis,
       weil die Mehrheit der Deutschen lange Zeit darin einig war, dass das
       Schicksal der „Zigeuner“ von anderen Intentionen bestimmt gewesen wäre als
       das der Juden. Nicht Rassenhass, sondern Kriminalprävention sei das Motiv
       der Nationalsozialisten gewesen. Wenn es aber Kriminalprävention war, dann
       waren die Opfer selber schuld an ihrem Unglück.
       
       So dachte die Mehrheit noch Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch des Dritten
       Reiches. Im Jahr 1956 kam der Bundesgerichtshof in einem berüchtigten
       Urteil zu der Feststellung, die das Verhalten der Mehrheit bei der
       Verweigerung von Entschädigungs- und Wiedergutmachungsleistungen zu
       sanktionieren schien: „Die Zigeuner neigen zu Kriminalität, besonders zu
       Diebstählen und zu Betrügereien. Es fehlen ihnen vielfach die sittlichen
       Antriebe zur Achtung vor fremdem Eigentum, weil ihnen wie primitiven
       Urmenschen ein ungehemmter Okkupationstrieb eigen ist.“
       
       ## Behauptete Defekte
       
       Sinti und Roma sind Objekte spezifischer Vorurteile. Die ihnen
       zugeschriebenen „rassischen“ Eigenarten und die daraus resultierenden
       behaupteten Defekte und Defizite sind Gründe der Exklusion: Sinti und Roma
       würden den Eigentumsbegriff und andere Werte der Mehrheit nicht teilen,
       seien sexuell zügellos, aus angeborenem Freiheitsdurst nicht sesshaft zu
       machen. Als Konfliktlösung akzeptierten „die Zigeuner“ angeblich nur Gewalt
       und sie seien nicht an die Lebensformen der Mehrheitsgesellschaft zu
       gewöhnen, lauten weitere Vorwürfe.
       
       Die ausgrenzenden Vorurteile konstellieren die Lebenswelt der davon
       Betroffenen. So wird ihnen nachgesagt, sie lehnten bürgerliche Wohnformen
       ab, weil sie lieber nomadisieren würden. Tatsächlich stand am Anfang aber
       die Verweigerung der Wohnung, die Sinti und Roma zur Nichtsesshaftigkeit
       zwang. Auch die Metaphern der Naturhaftigkeit und angeblicher Verachtung
       der Zivilisation sind willkommene Instrumente der Ausgrenzung: Das
       Vorurteil vom kindhaften Naturvolk rechtfertigt scheinbar Bevormundung und
       Ausgrenzung. Vorstellungen über die „Welt der Zigeuner“ bestimmen
       andererseits in der Konsumwelt mit Attributen wie rassig, feurig, pikant,
       sexuell stimulierend das Bild von der Minderheit.
       
       In der Abneigung gegen Sinti und Roma sind sich die Europäer einig. Eine
       Umfrage im Jahr 1988 ergab, dass 50 Prozent der Bundesbürger Ressentiments
       gegen „Zigeuner“ hegten, 1992 war der Anteil auf 64 Prozent angestiegen.
       Zwei Jahre später wurde ermittelt, dass jetzt 68 Prozent der Deutschen den
       Sinti und Roma grundsätzlich ablehnend gegenüberstanden.
       
       Den repräsentativen Erhebungen in der Mehrheitsgesellschaft steht eine
       Umfrage gegenüber, die der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma vor zehn
       Jahren innerhalb der Minderheit veranstaltete. 76 Prozent der Befragten
       berichteten von Diskriminierung im sozialen Umfeld und am Arbeitsplatz. 54
       Prozent hatten Nachteile bei der Wohnungssuche erfahren, 40 Prozent hatten
       Diskriminierungen in der Schule selbst erlebt oder berichteten von
       Ausgrenzungen, die ihre Kinder erfuhren. Aktuelle Studien bestätigen den
       zunehmenden Trend der Ablehnung.
       
       ## Furcht vor dem Stigma
       
       Angeblich sind Roma weder fähig noch willens zur Integration. Aber die
       Assimilation hat viele deutsche Sinti zu beruflichem und gesellschaftlichem
       Erfolg geführt, jedoch um den Preis der Geheimhaltung ihrer Identität. Die
       Angehörigen der autochthonen Minderheit deutscher Sinti und Roma treten für
       die Mehrheit der Deutschen kaum in Erscheinung. Sie sind integriert, wohnen
       und arbeiten so unauffällig wie ihre Nachbarn, geben sich nicht zu
       erkennen, weil sie das Stigma fürchten, wenn sie sich als „Zigeuner“ outen.
       Einige Musiker und Sportler haben es getan, nachdem sie Prominentenstatus
       erreicht hatten und keine Schmähung und keinen Karrierenachteil mehr
       fürchten mussten, andere sorgen sich um ihren Platz in der Chefetage in
       Industrie, Banken und Handel und geben diesen Teil ihrer Identität nicht
       preis.
       
       Das Verhältnis der größten ethnischen Minderheit Europas zur jeweiligen
       Mehrheit wird auch in Deutschland durch überlieferte Ressentiments,
       Legenden, Bilder bestimmt. Dazu kommt eine neue visuelle Wahrnehmung:
       Roma-Zuwanderer aus Südosteuropa werden als lästige Arme, als fremde
       Hilfsbedürftige, als „aggressive Bettler“, als ungefragte Anbieter unnützer
       Dienstleistungen, als Sozialschmarotzer, als Eindringlinge gesehen.
       
       Mit Metaphern des Schreckens wie „Armutsmigration“, „Sozialtourismus“,
       „Unterwanderung“, „Überfremdung“, „Plünderung der Sozialsysteme“,
       „Sozialbetrug“ usw. sind Roma belegt worden, die in den letzten Jahren aus
       Bulgarien und Rumänien in die Bundesrepublik eingereist sind. Die uralte
       Furcht vor „den Zigeunern“ konnotiert mit Eigentumsdelikten, Gewalttaten,
       Unsauberkeit, Aggression, Barbarei und anderen Übeln. Die Klischees vom
       „Zigeuner“ haben seit Generationen den Boden bereitet, die neuen Bilder der
       Elendssiedlungen, aus denen sie kommen, und der Armut, in der sie an den
       Rändern der Städte leben, sind nahtlos anschlussfähig. Medien und Politik
       agieren damit, instrumentalisieren auch die Geschicke der Immigranten,
       gestalten das Bild zum Feindbild.
       
       ## Prekariatsjournalismus
       
       Nicht nur in den Medien der Rechten wurde der „Ansturm der Zigeuner“ mit
       schreckenerregenden Bildern ausgemalt. Beliebter und wirkungsvoller als
       seriöse Berichterstattung und aufklärender Journalismus sind Reportagen
       über die Elendssiedlungen in der Slowakei, in Bulgarien oder Rumänien, aus
       denen Roma Auswege aus ihrem Elend durch Flucht in den Westen suchen.
       
       Mit der Schilderung der Zustände in den südosteuropäischen Herkunftsländern
       der „Armutsmigranten“ wird der Abscheu vor ihnen an den Ausgangspunkt
       zurückverwiesen, in der offenkundigen Absicht, die Inferiorität der Roma
       als naturgegeben und deshalb unabänderlich zu beweisen. Die Beschreibung
       der Elendssiedlungen hat auch den Zweck, den Opfern der Diskriminierung
       Schuld zuzuweisen, denn nach verbreiteter Ansicht tragen sie selbst dazu
       bei, dass sie diskriminiert werden. Das widerspricht zwar den Erkenntnissen
       der Ressentimentforschung, entspricht aber dem Erklärungswunsch der
       diskriminierenden Mehrheitsgesellschaft.
       
       Der Prekariatsjournalismus dient, unter dem Vorwand, die erbärmlichen
       Lebensumstände der „Zigeuner“ zu erklären, einem Sozialvoyeurismus, der
       Spießern die Selbstbestätigung ihrer Tugenden erleichtert. Rechtsextreme
       Propaganda wie das Wahlplakat der NPD, „Geld für die Oma statt für Sinti
       und Roma“, Hasstiraden in den Gesinnungsgemeinschaften der Bloggerszene
       sind nur die eine Seite der Wahrnehmung der Roma. Die andere besteht im
       unartikulierten Abscheu der Mehrheitsgesellschaft, mit dem sie der
       Minderheit begegnet und mit dem sie sich, ohne verbalen Aufwand und ohne
       Reflexion, selbst bestätigt. Roma sind ihr bestenfalls gleichgültig.
       
       8 Apr 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Wolfgang Benz
       
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