# taz.de -- Verstorbener Schriftsteller Gustafsson: So unzeitgemäß, so gut
       
       > „Doktor Wassers Rezept“ heißt der neue Roman des nun verstorbenen
       > schwedischen Autors Lars Gustafsson. Darin lief er zu großer Form auf.
       
 (IMG) Bild: Lars Gustafsson, 1936 bis 2016
       
       „Hier gelten ungefähr dieselben Regeln wie bei der Elchjagd zu Hause.
       Geduld aufbringen, jede Menge Geduld, und dabei niemals die Aufmerksamkeit
       verlieren.“ Das sind schöne, weise Sätze aus Lars Gustafssons neuestem,
       gerade eben erschienenem Roman, „Doktor Wassers Rezept“, der, wie man am
       vergangenen Wochenende erfahren musste, zugleich sein letzter bleiben wird.
       Schön und weise sind die Sätze, weil sie in vielen Kontexten anwendbar
       sind.
       
       Das Bezaubernde an den Büchern dieses Autors ist schon immer ihre
       Vielschichtigkeit gewesen. Dabei haben sie in der Regel keineswegs den
       Umfang und die Wucht der neuen Epik, die heute gängig ist.
       Siebenhundertseitenklötze waren von diesem Autor nie zu erwarten.
       
       Zwar ist Gustafsson ein hinreißender Erzähler, aber er war nie so
       aufdringlich, uns derart in eine Geschichte einzuspinnen, dass wir „das
       Buch bis zum Ende nicht mehr weglegen können“, wie die Standardformel
       heißt. Von seinen Büchern kann man jederzeit aufblicken und dem eben
       Gelesenen noch einmal hinterherdenken, etwa den Regeln der Elchjagd. Dazu
       sind sie geschrieben.
       
       Gustafssons Bücher haben wiederkehrende Leitmotive, und wir treffen in
       ihnen immer mal auf alte Bekannte, auch wenn sie vielleicht eine leichte
       Metamorphose durchlaufen haben. Was ihr Thema ist, lässt sich schwerer
       ausmachen.
       
       Das ist für das heutige Buchgeschäft natürlich ein Unding, und in dieser
       Hinsicht ist Lars Gustafsson ein vollkommen unzeitgemäßer Autor. Die
       Verlage sind auf der Suche nach Themen, weniger nach Autoren. Klimawandel
       ist wichtig, Konsumgesellschaft, Umwelt, Familie natürlich in allen
       Facetten, soziale Brennpunkte, Abstiegsangst, Liebe natürlich, aber auch
       Demenz ist nicht zu vergessen.
       
       „Flüchtlingskrise“ ist noch ganz neu, wurde aber auch schon bedient. Wer
       den Roman zum Thema schreibt, ist eigentlich egal. Sprache ist auch nicht
       so wichtig.
       
       Was aber den echten Gustafsson-Leser – und das kann man hierzulande sein,
       seitdem seine Bücher von Verena Reichel ins Deutsche übersetzt werden, also
       seit mehr als 40 Jahren –, was den also bezaubert, das ist gerade das
       Unzeitgemäße. Was nicht heißen soll, Gustafsson sei nicht auf der Höhe der
       Zeit.
       
       Vielmehr war er so umfassend gebildet, literarisch, mathematisch, geistes-
       und naturwissenschaftlich, dass der Begriff „Poeta doctus“ dafür gar nicht
       ausreicht. Und manchmal kann sogar dem echten Gustafsson-Leser diese
       umfassende Bildung ein bisschen auf die Nerven gehen. Dann aber ist es
       gerade wieder der spielerische Umgang mit all diesem Wissen, der uns
       bezaubert. Und nicht nur bezaubert, sondern auch erlöst von dem
       schrecklichen Gedanken, da sei einem doch noch einmal tatsächlich der Blick
       auf die Totalität gelungen.
       
       Diesem neuen Hang zum Totalitären sind die Romane Lars Gustafssons strikt
       abhold. Dabei hat gerade er den maßgeblichen Romanzyklus über die siebziger
       Jahre des vorigen Jahrhunderts geschrieben, über das Erwachen und die
       Desillusionierung nach „68“.
       
       Der war aber nicht von Anfang an so geplant, der ist ihm gewissermaßen nach
       und nach unterlaufen, in fünf Romanen, die von allem Möglichen erzählen,
       von den verheerenden Folgen der Tüchtigkeit wie vom Triumph der
       Mittelmäßigkeit, vom Hauptgefreiten Alexander Kluge wie von vertuschten
       Umweltskandalen, von Stockrosen und von Onkel Knutte. Nicht zu vergessen
       natürlich die beiden betrunkenen finnischen Matrosen. „Herr Gustafsson
       persönlich“, „Wollsachen“, „Das Familientreffen“, „Sigismund“ und „Tod
       eines Bienenzüchters“ heißen bekannte Romane von ihm.
       
       ## Mofas frisieren
       
       Der neue Roman erzählt von Doktor Wasser, und er wird auch von Doktor
       Wasser erzählt. Beides stimmt und stimmt zugleich nicht, weil Doktor Wasser
       aus Erfurt schon lange tot ist. Er hat mit dem Motorrad eine Kurve zu
       scharf genommen, da war er schon in Schweden. Dagegen ist Kent Andersson,
       der Dr. Wassers Identität angenommen hat und ohne Medizinstudium zu einem
       angesehenen Schlafforscher und Klinikchef geworden ist, ein Gewinner, wie
       er uns gleich im ersten Satz mitteilt.
       
       Das klingt nach einem Aufsteigerroman, aber das wäre weit daneben, weil
       Kent Andersson, der zu Doktor Wasser wird, nie wirklich etwas plant, aber
       einen Blick für den günstigen Augenblick und seine Nutzung hat. Außer der
       Gunst des Augenblicks genießt er auch die Gunst der Frauen, was dem Leser
       an einzelnen Stellen wieder ein wenig auf die Nerven gehen kann.
       
       Man könnte „Doktor Wassers Rezept“ einen Hochstaplerroman nennen, einen
       wesentlich substanzielleren als Thomas Manns Fragment über Felix Krull.
       Wenn es einen entscheidenden Moment im Leben Kent Anderssons gibt, dann ist
       es der, in dem er erkennt, dass er intelligent ist. „Ich dachte viel
       darüber nach, wie ich dieses Talent würde nutzen können. Damit war ich
       ziemlich allein. Dort, auf der anderen Seite des Sees.“
       
       Kent kommt nämlich nicht gerade aus einem begünstigten Milieu. Er ist ein –
       allerdings glücklicherer – Wiedergänger des Jungen aus dem Roman
       „Wollsachen“, der ein bisschen Geld mit dem Frisieren von Mofas verdient
       und ansonsten ein Mathematikgenie ist, was aber nur seinem Mathematiklehrer
       auffällt.
       
       Im Schulsystem sind Genies natürlich störende Elemente, und so kommt es,
       dass der Junge beim Schnüffeln mit Farbverdünnern nicht aufpasst und
       stirbt. Auch sein Lehrer, der ihn fördern wollte, kommt zu Tode, weil er
       von einem Lastwagen überfahren wird, dort in Trummelsberg.
       
       Kent Andersson, der aus derselben Gegend kommt, hat ebenfalls einen Lehrer,
       der ihn fördert. Er ist kein Mathematiker, sondern Werklehrer, und heißt
       auch nicht Lars Herdin, sondern Lars Fredin. Er bringt seinem Schützling
       nicht nur handwerklich sauberes Arbeiten bei – wofür dieser sein Talent
       schon bewiesen hat –, sondern erzählt ihm zum Beispiel „Geschichten von
       merkwürdigen verschwundenen Kulturen, die möglicherweise viel mehr gewusst
       hatten als wir. Aber worüber?“
       
       Kents Weg nach der Schule führt über die Arbeit in einer Reifenfirma und
       den Job als Fensterputzer in die Medizin. Das erscheint nur auf den ersten
       Blick sehr unvermittelt, hängt aber mit der Suche nach einem geeigneten
       Schlafplatz für Fensterputzer im Rahmen eines Großauftrags zusammen und
       damit, dass „ich ein neues Talent an mir entdeckt hatte. Ich kann den
       Eindruck erwecken, in Zusammenhänge zu gehören, in denen ich eigentlich
       nichts zu suchen habe.“
       
       ## Der Preis des Betruges
       
       Das ist seine Kernfähigkeit. Wobei Doktor Wasser, das sei hier gesagt, sich
       ganz zu Recht nicht als Hochstapler fühlt. „Mein Beruf hatte zwar als
       Rollenspiel begonnen. Aber in den letzten zwanzig oder dreißig Jahren war
       es eben mein Beruf geworden. Punktum. Niemals habe ich meine Stellung als
       Arzt oder Beamter missbraucht.“
       
       Sein weiterer Aufstieg führt ihn nämlich zu einer Stellung gleichsam als
       Oberaufseher über die Psychiatrie im Lande. Sein offizieller Titel ist
       Generaldirektor.
       
       Doktor Wasser beziehungsweise Kent Andersson ist viel zu intelligent, um an
       so etwas wie Identität zu glauben. Er weiß, dass es nicht gesund ist, zu
       stark darüber nachzugrübeln, wer man ist. Er weiß übrigens auch, dass
       Betrug – so nennt er ihn ganz offen – seinen Preis hat: „Etwas in meinem
       Leben hat – ohne meinen Willen oder gegen meinen Willen – systematisch
       darauf hingearbeitet, mich immer einsamer zu machen.
       
       Ich habe keine Verwandtschaft mehr. Auch keine richtigen Freunde.“ Am Ende
       nimmt er einem schon todkranken Mann die Fürsorge für seinen ebenfalls
       todkranken Hund ab. Fünf Monate später stirbt dieser Hund. „Ich habe dafür
       gesorgt, dass dieser Hund ein angemessenes Begräbnis bekam. Er war
       möglicherweise der einzige Freund, den ich nie hinters Licht geführt habe.“
       
       „Wir fangen noch einmal an. Wir geben nicht auf.“ So lauten zwei schlichte,
       weise Sätze aus dem „Tod eines Bienenzüchters“. Weitere Figuren neue
       Talente an sich entdecken lassen, selbst mit einem neuen Buch neu anfangen,
       das kann Lars Gustafsson nun nicht mehr.
       
       Doktor Wasser ist gerade 80 geworden, als er seine Geschichte(n) erzählt.
       Lars Gustafsson wird nun so alt nicht mehr werden, der runde Geburtstag
       wäre am 17. Mai gewesen, und es ist sehr traurig, dass er am Sonntag
       gestorben ist. Von Gustafsson hätte man sich weitere unzeitgemäße Bücher
       gewünscht, selbst auf die Gefahr hin, dass er uns hinters Licht führt.
       
       5 Apr 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jochen Schimmang
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Astrid Lindgren
 (DIR) Liebe
 (DIR) Hamburg
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Astrid Lindgrens Tochter über ihre Mutter: „Sie war nicht nur Pazifistin“
       
       Karin Nyman ist froh, dass Astrid Lindgren den Rechtsruck in Europa nicht
       mehr mitbekam. Ein Gespräch über Politik, Pazifismus und Pippi in China.
       
 (DIR) Roman über Liebeswahn: Mach dich nicht lächerlich
       
       Was passiert, wenn sich kluge Menschen unglücklich verlieben? Die Autorin
       Lena Andersson beschreibt es in „Widerrechtliche Inbesitznahme“.
       
 (DIR) Nordische Literaturtage: Jenseits von Bullerbü
       
       Die Deutschen sind Europas hartnäckigste Skandinavien-Fans – und sie
       pflegen die meisten Klischees. Dabei sind die Autoren, die zu den
       Literaturtagen nach Hamburg kommen, kantig und postmodern.