# taz.de -- Protokoll aus Diyarbakir: Vorbei, der Krieg ist da
       
       > Im türkischen Kurdistan geht der Staat brutal gegen jede Opposition vor.
       > Unser Autor fragt, wo die deutsche Empörung über die Gewalt bleibt.
       
 (IMG) Bild: Tränengaseinsatz in Diyarbakir am 22. Dezember
       
       Protokoll aus Diyarbakir, 24.12.2015, 02:00 Uhr 
       
       Was für ein Staat, das doch ist. Am 4. Juli 2015 feierte das türkische
       Kultusministerium zusammen mit der von der oppositionellen HDP regierten
       Senatsverwaltung Diyarbakir (Amed) in Bonn die Aufnahme der
       jahrtausendealten und prächtigen Burg und der Hevsel-Gärten in die UNESCO
       Welterbeliste. Ich erinnere mich noch genau, wie der Unesco-Botschafter der
       Türkei mit den Ko-BürgermeisterInnen von Amed von ihren Sitzen aufsprangen,
       als der Beschluss bekannt gegeben wurde. Ich stand eine Etage weiter oben
       und filmte...
       
       Fünf Monate später sind tausende Polizisten und Soldaten der gleichen
       Regierung gerade dabei, die von dieser Burg eingefriedete Altstadt dem
       Erdboden gleich zu machen. Seit über zwei Wochen beschießen sie mit
       Artillerie und gepanzerten Wagen Sur, wie die Altstadt genannt. Szenen, die
       selbst in den 90er Jahren unvorstellbar waren. Ja, wir befinden uns nicht
       auf syrischem oder irakischem Staatsgebiet, sondern türkischem!
       
       Seit zwei Wochen höre ich Schüsse und Bombenexplosionen im Zehnminutentakt,
       sowohl auf der Arbeit als auch von zu Hause aus. Beide Orte sind nur fünf
       Gehminuten von Burg entfernt. Es ist eigentlich nicht auszuhalten, trotzdem
       verschließe ich nicht meine Ohren. Ich höre und sehe Helikopter fliegen und
       all die Militärwagen und -geräte in Richtung Sur fahren. Eins bis zweimal
       fahren Krankenwagen in die gleiche Richtung.
       
       Noch im Frühjahr und Frühsommer spazierte ich mindestens zweimal in der
       Woche mittags oder abends in die Altstadt, um zu essen, zu trinken,
       einzukaufen, FreundInnen zu treffen, aber vor allem die Burg, engen Gassen
       und vielen Kulturdenkmäler beim Vorbeigehen einwirken zu lassen. Vorbei,
       der Krieg ist da.
       
       Ein Krieg, der in kurzer Zeit mit seiner ganzen Brutalität über uns herzog.
       Noch vor Monaten sprach ich mit vielen Menschen über eine neue Post-AKP-Ära
       für das ganze Land und wie die Altstadt und der ganz nah liegende Tigris –
       mein eigentliches Projekt – besser geschützt werden könnte. Die Bombe, die
       am 5. Juni auf einer Wahlkundgebung der HDP vielleicht zwanzig Meter neben
       mir explodierte und vier Menschen in den Tod riss, betrachteten wir nur als
       eine Störung auf dem Weg zu schöneren Zeiten. Doch war sie nur Vorbereitung
       auf das, was wir jetzt erleben. Die nächsten traurigen Höhepunkte waren die
       Massaker von Suruç im Juli und Ankara im Oktober mit über 130 Toten.
       
       Man muss verstehen: Ein ganzer Stadtteil wird systematisch zerstört, weil
       der Widerstand seiner Bewohner sich der brutalen Staatsgewalt nicht beugen
       will. Ein Staat, der bis heute nur Verachtung für sie übrig hat. Er hat sie
       durchgehend festgenommen, gefoltert, ausgebeutet und immer wieder
       erniedrigt. Dieser türkischer Staat hat nie Erbarmen gehabt, sie verarmen
       lassen und um ihren Lebenswillen zu brechen, seit den 90er Jahren ihre
       Kinder den Drogendealern überlassen.
       
       Doch die kurdischen Jugendlichen von Sur haben sich in den letzten Jahren
       organisiert und als erstes die Drogenszene verjagt und sich politisch
       gebildet. Das erzählte mir eine Gruppe von Jugendlichen bei einem
       Spaziergang im Frühjahr noch stolz vor dem südlichen Mardin-Tor.
       
       Zehn Minuten sind vorbei, ich höre wieder mehrere Schüsse... Gleichzeitig
       lese ich: Ali Şimşek, der Ko-Vorsitzende der Partei DBP – welche die
       KurdInnen in der HDP vertritt – ruft die Bevölkerung zum verstärkten
       Protest auf, weil diese Nacht die Angriffe des Staates stärker geworden
       sind und ein Massaker stattfinden könnte. Das hoffe ich natürlich nicht und
       glaube, dass der Widerstand wie seit Monaten auch jetzt hält! Einige
       tausende Bewohner sind trotz der Repressionen in den heftig umkämpften
       Stadtteilen der Altstadt geblieben, um mit den kämpfenden Jugendlichen
       „Berxwedan Jiyane“ (Widerstand heißt Leben) zu sagen!
       
       ## Kultur des Widerstandes
       
       Dass diese Regierung und der Staatspräsident täglich Erklärungen über die
       Entschiedenheit des Staates abgeben, wird am Widerstandswillen nichts
       ändern, sondern ihn bestärken. Hat dieser Staat nichts von der Geschichte
       gelernt, kann er militärisch wirklich siegen? Nein, diese Menschen werden
       bis zum letzten kämpfen. Das liegt daran, dass die kurdische
       Freiheitsbewegung in den letzten dreißig Jahren eine neue Kultur des
       Widerstands in der Bevölkerung aufgebaut hat, die alle Waffen und alles
       Geld dieser Welt wertlos erscheinen lässt.
       
       Wir, die draußen sind, fiebern stündlich mit diesen tapferen Menschen. Sie
       sind unsere Würde! Auf den Straßen und in den Bussen höre ich immer wieder
       Menschen, die über die Zerstörungswut des Staates schimpfen. Viele wollen
       es nicht wahr haben, dass dieser Staat jeden Tag mehr Gebäude zerbombt, um
       in den engen Gassen von Sur vorankommen zu können.
       
       Vorgestern waren tausende Menschen direkt vor meiner Arbeitsstelle
       zusammengekommen, um dann in Richtung des Platzes Dağkapı (Şex Said) zu
       marschieren. Nach nur drei Minuten wurden sie von hunderten PolizistInnen
       und mehreren Einsatzwagen gestoppt. Trotz Gesprächen gab es kein
       Durchkommen mehr.
       
       Die Menschen kehrten langsam um und versuchten über eine Nebenstraße, näher
       an die Altstadt heranzukommen. Keine Chance, denn die Polizei machte, was
       sie seit vielen Monaten gerne tut: mit Tränengas schießen! Alles war mit
       diesem Tränengas vernebelt, alle waren davon getroffen. Wie eine Gruppe
       Kinder, die ich im September sah. Sie machten vor einem Polizeiwagen ein
       paar Fratzen und das Victory-Zeichen und tanzten herum. Die Polizei
       antwortete mit Tränengas.
       
       ## Zitronen als Waffen
       
       Und auch an diesem Tag war das Gas überall. Mit zwei Freunden vor meiner
       Wohnung stehend, wurden wir aus einem vorbeifahrenden, leicht gepanzerten
       Polizeifahrzeug mit Tränengas beschossen – einfach so. Dieses Tränengas ist
       nicht mit dem in Deutschland eingesetzten vergleichbar, es greift Augen und
       Hals in ekelhafter Form an. Die Folge ist minutenlanges Husten. Es setzt
       fast alle Menschen außer Gefecht. Niemand hat Zitronen dabei, denn bei
       Festnahmen gelten die als Waffen gegen die Staatsgewalt und können zu
       vielen Jahren Haft führen. Die auf mich und meine Freunde geschossene
       Kapsel landete vor dem Hauseingang, das Gas drang ins Treppenhaus ein.
       Keine halbe Minute später waren die hustenden und auf den Staat fluchenden
       Menschen zu hören.
       
       Immer Menschen hassen diesen Staat. Auch die Angriffe des Staates in
       Städten wie Cizre, Silopi und Dargeçit lassen die Wut bei den Menschen in
       Kurdistan wachsen. In diesen Orten leisten viele zehntausende Menschen
       Widerstand gegen diesen „irrationalen“ Staat. Dutzende sind gezielt getötet
       worden, darunter viele Kinder und Alte. Erst in der letzten Woche wurde ein
       Student mit einem Schuss in den Kopf ermordet. Er stand zu diesem Moment
       mit FreundInnen in einem Park und diskutierte. Serdıl Cengiz studierte an
       der Universität in Dersim (Tunceli). Mein Cousin arbeitete dort mit ihm als
       wissenschaftlicher Mitarbeiter. Mein Cousin mochte Cengiz sehr, das steht
       an diesem Wochenende tief in sein Gesicht geschrieben. Auch in Dersim
       demonstrierten zwei Tage lang viele Menschen gegen diesen Mord.
       
       „Ist der Staat verrückt?“ fragen mich Menschen immer wieder. Ja und Nein.
       Er hat ein Kalkül bei diesem verbrecherischen Vorgehen und will diese
       gespannte Atmosphäre für weitergehende Ziele missbrauchen. Aber: Auch wenn
       er kurzfristig Gewinne erzielen sollte, wird er langfristig verlieren. Denn
       viele Menschen brechen innerlich mit diesem Staat und vor allem der
       „Türkei“.
       
       Letzteres auch deshalb, weil im Westen des Landes kaum jemand gegen die
       Massaker protestiert. Die türkische Gesellschaft schweigt, auch viele
       demokratischeren und linken Menschen. Sie sind besonders nach dem
       Wahlergebnis vom 1. November nach wie vor erschüttert und ohne Hoffnung.
       Der Bruch durch die kurdische Gesellschaft aber geht weiter. Momentan kann
       niemand die langfristige Folgen wirklich einschätzen.
       
       Ein Angriffs-Intervall auf Sur habe ich ignoriert. Gerade jetzt müssen
       außerhalb der Altstadt zwei Bomben hochgegangen seien...
       
       ## Freischein für Gewalt
       
       Deutschland kommt mir in den Sinn. Eure Bundesregierung hofiert Erdoğan und
       gibt ihm Milliarden, damit er die vielen Flüchtlinge doch noch in seinem
       Staatsgebiet behält (unter welchen Bedingungen, sei dahingestellt).
       Plötzlich ist jede Kritik vergessen, die in den letzten 2-3 Jahren so oft
       geäußert wurde. Eure Regierung ist einen dreckigen Deal eingegangen. Denn
       die Türkei hat damit gleichzeitig eine Freikarte bekommen, noch brutaler
       gegen Oppositionelle – also uns – vorzugehen.
       
       Ein EU Beitrittskandidat zerstört wahllos eigene Städte, aber zur gleichen
       Zeit werden neue Schritte im Rahmen des Beitrittsprozesses gemacht. Es ist
       ein Hohn des deutschen Staates gegen seine Einwohner und uns hier in
       Türkisch-Kurdistan!
       
       Noch ist es nicht zu spät, um eine Öffentlichkeit für diese Verbrechen zu
       schaffen. Einige Tage wird der Widerstand hier sicher halten. Das Schlimme
       ist es, dass mit jedem weiteren Tag der Zerstörungen durch den türkischen
       Staat die Menschen von Kurdistan den Glauben an eine friedliche politische
       Lösung immer mehr verlieren. Gleichzeitig vertieft sich mit jedem Tag der
       Chauvinismus in der Türkei.
       
       Es ist eine eine traurige Kontinuität der Geschichte zwischen Deutschland
       und der Türkei, dass es immer wieder solche dreckigen Abmachungen gegeben
       hat. Wir erinnern uns noch sehr gut daran, dass in den 90er Jahren vor
       allem deutsche Waffen eingesetzt wurden, um knapp 4000 kurdischen Dörfer zu
       zerstören. Doch haben zu der Zeit Medien und die Öffentlichkeit Druck auf
       ihre Regierung in Deutschland und den anderen westlichen Staaten ausgeübt.
       
       Wo ist dieser Druck, wo ist diese Öffentlichkeit heute? Wo?
       
       25 Dec 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ercan Ayboga
       
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