# taz.de -- Eine schrecklich wahre Weihnachtsgeschichte: Steine und Scherben
       
       > Wie das ist, wenn nie kommt, was man sich wünscht – und mit Rio Reiser
       > die Rettung naht.
       
       Nie bekamen wir das, was wir uns wünschten. Wir wollten in den Urlaub,
       meine Eltern wollten lieber ein Haus bauen. Wir wollten mehr Taschengeld,
       meine Eltern wollten lieber ein Haus bauen. Wir wollten unsere Eltern, die
       aber mussten ein Haus bauen, mit eigenen Händen, von morgens bis abends,
       denn Handwerker sind teuer. Wir wollten auch, dass unsere Eltern nicht
       dauernd stritten und dass meine Mutter nicht immer herumschrie und Geschirr
       an die Wand schmiss. Die aber hatte es mit den Nerven, denn so ein Hausbau
       ist sehr anstrengend.
       
       Während meine Eltern abwechselnd stritten und auf der Baustelle arbeiteten,
       mussten wir uns mit drei Geschwistern ein winziges Kinderzimmer in einer
       winzigen Wohnung teilen. Das sparte Geld, das meine Eltern für das Haus
       brauchten, denn so ein Haus ist teuer. Wir aber wollten eigene Zimmer. Die
       bekamen wir auch, als das Haus endlich fertig war: Mein älterer Bruder
       bekam das größte, ich das mittlere und mein jüngerer Bruder das kleinste
       Zimmer. Dort gab es kaum Platz für ein vernünftiges Bett. Vielleicht haben
       meine Eltern ja gedacht, wir würden nicht mehr wachsen und mein kleiner
       Bruder ewig fünf Jahre alt bleiben. Schließlich hatten sie‚s jetzt zu etwas
       gebracht, und vielleicht bleibt die Zeit ja stehen, wenn endlich feststeht:
       Man hat‚s geschafft.
       
       Auch zu Weihnachten bekamen wir nie das, was wir uns wünschten. Das hatte
       manchmal damit zu tun, dass unsere Wünsche zu teuer waren. Schließlich
       hatten wir ja ein Haus, und zwar nicht irgendeins, sondern »das schönste
       Haus im ganzen Dorf«, sagte meine Mutter, und das musste abbezahlt werden.
       Was sind schon Markenjeans gegen ein so schönes Haus? Undankbare Kinder
       hatte sie, gierig und egoistisch und unfähig, dieses wunderschöne Haus
       wertzuschätzen. Manchmal hatte es aber auch damit zu tun, dass wir nicht
       nur gierig und egoistisch waren, sondern überdies keinen guten Geschmack
       hatten. Den aber besaß meine Mutter, schließlich hatte sie ja auch das
       schönste Haus im Ort gebaut. Mit eigenen Händen!
       
       So wünschte sich mein älterer Bruder eine weinrote Feincordhose, das war in
       den frühen achtziger Jahren hip bei coolen Jungs. Er bekam eine jägergrüne
       Breitcordhose und machte sich damit zum Gespött der ganzen Schule. Meine
       Mutter fand sie schick und sagte, die anderen hätten alle keine Ahnung. Das
       kannst Du doch schon an den popeligen Häusern von ihren Eltern sehen, sagte
       sie. Ich wollte eine Jeansjacke und bekam ein Jeans-Blouson mit
       Schulterpolstern. Die durfte ich auch nicht entfernen, denn meine Mutter
       fand sie flott. Hosen mussten in den achtziger Jahren hochgekrempelt
       werden, sonst war man unten durch. Ich durfte das nicht, denn das sah
       unmöglich aus, fand meine Mutter. Ich krempelte die Hosenbeine hoch, sobald
       ich das schönste Haus im Landkreis verlassen hatte, und ließ sie wieder
       runter, wenn ich heim kam. Meine Mutter sah die dadurch entstandenen Falten
       und strich mein Taschengeld für drei Wochen.
       
       War das Taschengeld mal nicht gestrichen, reichte es kaum für das, was man
       so brauchte als ordentlicher Jugendlicher. Schallplatten zum Beispiel waren
       nicht drin. Ich nahm die Platten meiner Freunde auf Kassetten auf. Die
       konnte ich mir gerade noch so leisten. Ich besaß, als ich zwanzig war,
       ungefähr tausend Kassetten und vielleicht fünfzig Platten. Von denen war
       die Hälfte Schrott, denn dabei handelte es sich um Weihnachtsgeschenke
       meiner Eltern, die auch hier trotz eindeutiger, weil schriftlich geäußerter
       Wünsche stets den besseren Musikgeschmack hatten oder aber von ihrer
       Mitgliedschaft im Bertelsmann-Buchclub profitierten, wo sie günstiger an
       »ähnliche Musik« kamen.
       
       Als ich fünfzehn war, hatte ich Rio Reiser kennengelernt und wünschte mir
       zu Weihnachten das Album mit dem Song »Junimond«. Ich bekam stattdessen die
       Platte »Ton Steine Scherben live in Berlin 1984«. Auf dem Cover pappte ein
       Aufkleber: »Mit dem König von Deutschland: Rio Reiser«. Ich war stinksauer.
       Wahrscheinlich hatte die Platte direkt neben dem gewünschten Album gelegen,
       war aber zehn Mark billiger, und meine Mutter dachte: »Ach, da kann ich ja
       wieder Geld sparen für das schönste Haus im Bundesland. Wird sich schon
       nicht groß unterscheiden, ist ja schließlich derselbe Sänger.« Ich kannte
       keinen einzigen Song.
       
       Dieses Weihnachten war ohnehin noch katastrophaler als alle vorherigen,
       denn ein paar Monate zuvor war mein Vater ausgezogen. Als im schönsten Haus
       der Republik nichts mehr war, das meine Mutter gegen die Wand deppern
       konnte, hatte sie im großen Finale meinem Vater den Absatz eines
       Stöckelschuhs in die Wade gerammt. Seine letzten Worte, bevor er das Haus
       verließ, lauteten: »Du Sau.« Leider wurde es seitdem nicht friedlicher im
       Traumhaus, denn nun ließ meine Mutter all ihren Frust an uns aus. War sie
       zwischendurch mal kraftlos oder heiser, dann beweinte sie ihr Schicksal. An
       jenem Heiligen Abend jedoch hatte sie sowohl Stimme als auch Kraft und
       bereits das eine oder andere Gläschen Portugieser Weißherbst getrunken und
       verlangte nun ganz aufgedreht, dass ich meine »schöne neue Platte«
       auflegte.
       
       Ich wollte nicht, ich war stocksauer, ich hätte mit der Platte am liebsten
       das gemacht, was meine Mutter alle sechs Wochen mit dem Geschirr tat. Aber
       ich traute mich nicht und wollte auch nicht, dass sie ausgerechnet an
       Weihnachten einen ihrer Zusammenbrüche bekam. Also legte ich die Platte
       auf. »Ich will nicht werden, was mein Alter ist.« Mein älterer Bruder fing
       an zu grinsen, meine Mutter ließ sich nichts anmerken. »Verboten«. Meine
       Mutter bat darum, die Anlage ein bisschen leiser zu stellen, das sei ja
       ganz flott, aber doch auch sehr laut. Bei »Feierabend« wippte sie gequält
       ein wenig mit dem Fuß, den »Shit-Hit«, sagte sie schmallippig, verstünde
       sie nicht. Und leider habe sie nun auch Kopfweh und könne heute keine Musik
       mehr ertragen. Bis zu »Keine Macht für niemand« kamen wir an diesem Abend
       also nicht mehr, aber das machte nichts: Ich hatte einen Schatz zu
       Weihnachten bekommen, das wusste ich nun. Der Junimond war vergessen.
       
       22 Dec 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Simone Schnase
       
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