# taz.de -- Die Wahrheit: Opa mit Schuss
       
       > Zu Weihnachten nach Hause zur Familie fahren? Wo die Eltern das
       > Kinderzimmer wieder aufgebaut haben? Und Großvater wieder lebt? Hmmmm …
       
       „Und, wie sieht’s aus? Fährst du dieses Jahr nach Hause . . . Weihnachten?“
       
       Er hatte bereits die dritte Feuerzangenbowle intus, und seine Nasenknolle
       bekam langsam eine Färbung, die nicht mehr nur mit dem niedrigen
       Thermometerstand zu erklären war. Wir standen mitten in einem riesigen
       Menschenpulk, alles gute Leute, die den Weihnachtsmarkt ebenfalls nutzten,
       um sich mit diesem wunderbaren Zuckerwasser einen anzukümmeln. Gegen die
       Kälte! Und vielleicht auch noch gegen dies und das.
       
       „War doch schon Muttertag da!“ – „Na und?“ – „Nee, das zieht mich immer
       runter. Meine Eltern haben das alte Jugendzimmer wieder aufgebaut, mit den
       ganzen Kinderbüchern, Fußballpokalen und so. Wenn du da ins Bett gehst,
       bist du wieder dreizehn, ob du willst oder nicht, voriges Jahr habe ich
       sogar Karl May gelesen. Das muss aufhören.“
       
       „Man kann ja ein Hotelzimmer nehmen.“ – „Da wirst du gleich enterbt.
       Letztes Jahr hat mich sowieso umgehauen . . . Meine Eltern und ich haben am
       zweiten Weihnachtstag einen langen Spaziergang gemacht. Wie man sich das
       vorstellt, richtig idyllisch, durch Schnee gestapft et cetera und trallala,
       in der Stadt geht das ja gar nicht, ist ja nur Schmiererei . . .
       
       Nach zwei Stunden waren wir so durchgefroren, dass mein Vater vorschlug,
       ins Café Wiesengrund zu gehen. Das einzige Café im Ort. Meine Mutter motzt
       zwar, weil sie fürchtet, ihren selbstgebackenen Stollen nicht loszuwerden.
       Ich sehe es schon kommen, da essen wir doch wieder bis Ostern dran. Aber
       das war nur Alibi-Widerstand.
       
       Wir also da rein, Kaffee und Kuchen bestellt, aufgewärmt, und dann sehe ich
       da ein paar Stellwände mit alten Schwarzweißfotos, eine Ausstellung zur
       Dorfhistorie. Jahrhundertwende, Weimarer Republik, drittes Reich . . .
       Überall diese ernsten Menschen, die man von alten Fotos kennt, und diese
       leeren Augen, unheimlich geradezu.
       
       Die eine Wand aber ist voll mit Fußballaufnahmen aus den Zwanzigern und
       Dreißigern, und ein Typ kommt mir irgendwie bekannt vor, ist auch gleich
       auf mehreren Bildern zu sehen. Mitte zwanzig etwa und immer so ein
       melancholisches Lächeln auf dem Gesicht. Ich hole meine Mutter dazu, frage
       sie, ob sie den kennt, und sie hängt sich bei mir ein und meint dann ganz
       feierlich: ‚Das ist dein Opa!‘ “
       
       „Das ist ja witzig“, sagte ich. Er schüttelte sich vor Kälte oder irgend
       etwas anderem. „Meinen Opa habe ich gar nicht kennengelernt. Der ist ja im
       Krieg geblieben. Irgendwo in Russland. Und dann siehst du ihn auf einmal
       voll im Saft und jünger als du selbst, Mann. So lebendig wie ich vermutlich
       nie war . . . Du kannst mich für ein Weichei halten, aber das ging mir
       durch und durch. Und dann dieses traurige Lächeln, als wäre das ganz allein
       für mich bestimmt. Als fände er das auch schade, nie mit mir Fußball
       spielen zu können, weil er . . . na ja, als wüsste er, dass er längst
       gestorben wäre, wenn ich diese Bilder zu sehen bekäme.“
       
       „Ich hol dann wohl besser noch einen“, sagte ich.
       
       „Mit Schuss.“
       
       16 Dec 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Frank Schäfer
       
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