# taz.de -- Gedanken zum Herbstlaub: „Ist dem Baum dann kalt, Mama?“
       
       > Herbst, die Blätter fallen. Unsere Autorin hat Kinder, die ungefähr so
       > hoch sind wie ein Laubhaufen. Und sie haben viele Fragen.
       
 (IMG) Bild: Wenn es im Sommer wenig geregnet hat, fallen die Blätter früher, das nennt man „Trockenstress“.
       
       Vor ein paar Tagen, am Morgen, motzt ein Mann auf der Straße vor sich hin.
       Was genau er sagt, ist nicht zu verstehen, aber er muss sich geärgert
       haben, denn er tritt mit seinem Schuh einen Haufen honiggelber Blätter. Der
       Schwung seines Kicks zerfällt in Zeitlupe, als er auf den Laubhaufen
       trifft. Für einen Moment fliegen die Blätter in die Luft, dann schaukeln
       sie zurück auf den Asphalt. Der Mann biegt um die Ecke. Das Laub kommt zum
       Ruhen.
       
       Der Junge mit dem Laufrad schnappt sich eins und stopft es in seine
       Jackentasche. Es ist trocken. Bricht, bröselt. Er angelt nach dem nächsten.
       
       Dann rückt die Truppe an. Fünf Männer sind es, orangefarbener als das
       leuchtendste Ahornblatt, so orange, dass man kurz die Augen zusammenkneift.
       Zwei der fünf wirbeln mit Laubblasrüsseln im Arm von jeder Seite die
       ruhenden Blätter auf. Sie treiben sie unter den Autos hervor, blasen sie in
       die Straßenmitte. Die drei anderen streichen sie mit ihren Besen zusammen.
       Eins, zwei, eins, zwei, drei.
       
       Routine im Laubbläsertanz, seit zwei Wochen zwei Schichten am Tag, nicht
       vor 7 Uhr, nicht nach 20 Uhr. Manchmal schreit ein Anwohner, „laut!“,
       „Gefahr fürs Gehör!“ oder so, dabei benutzen diese Jungs hier schon die
       batteriebetriebenen Maschinen, nicht die Benziner. Am meisten Arbeit macht
       die Platane, sagen sie, weil ihre großen Blätter gern auf der Straße kleben
       bleiben.
       
       ## Am längsten warten Eichen
       
       Auf der Fahrbahnmitte wächst der Laubkamm. Der Bus fährt drüber. Blätter
       stieben in Unordnung. Der Junge am Straßenrand findet einen Stock und
       spießt eines auf. Noch eines, diesmal ein rotes.
       
       „Ein rotes, Mama!“
       
       Er hat ein Buch, in dem eine Maus im Herbst nicht Nüsse sammelt oder
       Körner, Vorräte für den langen Winter wie alle anderen Mäuse. Diese eine
       Maus sammelt Farben.
       
       „Schau, ein r-o-t-e-s!“
       
       In jedem Sommer gibt es diesen Augenblick, an dem über Nacht mit dem Licht
       der Geruch in den Straßen ein anderer wird. Noch bevor sich die Bäume
       verfärben, riecht es nussig und klamm, und man ahnt, dass es nicht mehr
       lange dauern wird, bis das erste Blatt sich löst. Der erste Baum, der
       loslässt, ist die Schwarzerle, schon im Sommer, wenn ihre Blätter noch grün
       sind. Sie ist so lichtbedürftig, dass sie den Schatten ihrer eigenen
       Blätter nicht erträgt. Dann folgen die anderen Laubbäume, Kirschen, Birken
       und Kastanien. Sie bilden im Frühling an den Blattstielen Trennungszonen,
       sagt Andreas Roloff, an denen sie brechen, wenn die Zeit reif ist. Roloff
       ist Forstwissenschaftler an der TU Dresden; ich habe ihn angerufen, weil
       ich mal eine Antwort wissen will auf die vielen Fragen, die der Junge
       stellt.
       
       Wenn es im Sommer wenig geregnet hat, fallen die Blätter früher; Roloff
       nennt das Trockenstress. Am längsten warten junge Hainbuchen und Eichen,
       sagt er, bis sie sich wandeln. Der Ahorn ist dabei der schönste. Er flammt
       erst golden auf, wird dann rot und schließlich braun, bis er ganz kahl
       steht. Ganz leer. „Ist dem Baum dann kalt, Mama?“
       
       Ein mittelalter Baum, eine Platane von 300 Jahren oder ein Spitzahorn von
       120 Jahren, trägt mehrere Millionen Blätter, ganz genau kann es auch Herr
       Roloff nicht sagen. Aber man kann in diesen Tagen in jeder Berliner
       Tageszeitung lesen, dass hier 440.000 Straßenbäume stehen. Und dass am
       Ende, wenn das letzte Blatt gefallen ist, bis etwa Weihnachten, 105.000
       Kubikmeter Blätter vor den Straßen gefegt sein werden. Das sind 2.100
       Güterwaggons voller Ahorn-, Kastanien, Platanen- und Birkenblätter. Aber
       das Olympiastadion würden sie nicht füllen. Dort passen 1,02 Millionen
       Kubikmeter rein.
       
       Sind es in diesem Jahr sogar mehr Blätter geworden?
       
       Vielleicht hat sich auch der Blickwinkel verändert. Auf das Wesentliche.
       Auf Hüfthöhe. Auf den Blickwinkel zweier kleiner Kinder, die in diesem
       Herbst die Höhe eines großen Laubhaufens erreicht haben. Der Junge hat im
       Oktober sein erstes Blatt zwischen den Brockhaus-Bänden glatt gepresst (man
       kann die schweren Lexika doch gebrauchen) und auf ein Papier geklebt. Das
       Mädchen saß im Sandkasten unter einem Blätterregen und quietschte vergnügt,
       als es eines in die Händchen bekam. Es hat es bis zum Abendbrot nicht mehr
       losgelassen.
       
       Die Bäume erscheinen in neuem Licht. Mächtige Platanen, Kastanien,
       Trauerweiden, und dieser im Sommer eher unscheinbare Baum, der im Oktober
       purpur wurde.
       
       „Warum ist der Baum lila, Mama?“
       
       Der Junge nimmt seinen Stock und stochert im Blätterberg auf der Straße.
       Seine Schwester hat ihr Schühchen bei einem der letzten Spaziergänge
       abgestreift. Der Schuh fiel aus dem Buggy, und als wir es bemerkten, war er
       verschollen. Der Junge kann nicht leiden, wenn etwas nicht so ist wie
       vorher. Also fängt er immer wieder an zu suchen. Aber der Schuh hatte eine
       Farbe wie die Rückseite einer dieser Blattsorten, Hellgrau.
       
       Die Männer in Orange flankieren mit ihren Besen einen Schneepflug, der die
       Blätter ineinanderschiebt. Der Haufen vor ihnen wächst. Hinter ihnen wächst
       Leere.
       
       Vielleicht aber stimmt das auch, vielleicht gibt es mehr Blätter in diesem
       Jahr. Wenn es im Sommer viel geregnet hat, sagt der Forstwissenschaftler,
       entfalten die Bäume mehr Blätter. Sie sind dann auch größer.
       
       Je mehr Blätter, desto größer ist die Gefahr für Leib und Leben. Manche
       rutschen aus, manche drohen, taub zu werden vom Lärm der Laubbläser.
       Mietervereine machen darauf aufmerksam, dass Laub genauso gefährlich sei
       wie Glatteis. Vielleicht sollte man die Kinder zeitweise nicht mehr in die
       Schulen schicken. Vielleicht brauchen deshalb immer mehr Leute einen SUV?
       
       Nach mehr als fünfhundert Metern Straße und weniger als einer halben Stunde
       streifen zwei der jungen Männer in Orange den Laubblasrucksack ab. Sie
       fassen einander an den Schultern. Einer kichert. Sie hüpfen zu einer Musik,
       die nur sie beide hören. Kurz, bis sie sich umschauen. Aber warum sollten
       sie nicht fröhlich sein, sie haben ihr Ziel vor Augen. Die Truppe der fünf
       verstaut ihr Gerät im Wagen. Laub Parade steht darauf. The Laub is back.
       The BSR auch, die Berliner Stadtreinigung. Die Straße ist wieder grau.
       
       ## Aus Laub wird Blumenerde
       
       Später wird ein Ladekranfahrzeug kommen und den Haufen wegnehmen und zum
       Beispiel ins brandenburgische Trappenfelde fahren. Dort liegt das Laub
       drei, vier Monate, rottet, wie ein Käse reift. Wird mit anderen
       Grünabfällen vermischt. Rottet weiter. Bis beinahe ein Jahr vorüber ist. Am
       Ende wird der Berliner Laubhaufen von unserer Straßenecke Blumenerde sein.
       
       Noch ist er da. Der Junge mit dem Laufrad nimmt Maß und saust darauf zu.
       Bevor der Schneepflug die Blätter zusammengeschoben hatte, waren sie
       goldgelb. Jetzt ist der Haufen braun. Eine braune, ordentliche,
       geometrische Form. Der Junge kann ihr nichts anhaben.
       
       „Wollen Sie was mitnehmen?“, fragt der Chef des Laubkehrertrupps. Er steigt
       ein, lässt den Wagen an. „Gerne, so viel Sie wollen!“ Er tritt aufs Gas und
       ist weg.
       
       21 Nov 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Carolin Pirich
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Flughafen Berlin-Brandenburg (BER)
       
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