# taz.de -- Nachruf André Glucksmann: Das Ärgernis der Linken
       
       > Vom glühenden Marxisten zum Kritiker aller totalitären Erzählungen: Der
       > französische Philosoph André Glucksmann ist tot.
       
 (IMG) Bild: Der französische Philosoph André Glucksmann (Archivfoto von 1998).
       
       Sein Sohn Raphael twitterte am Dienstagmorgen: „Mein erster und bester
       Freund ist nicht mehr.“ Was für eine traurige, des guten gemeinsamen Lebens
       glücklich gesinnte Mitteilung: André Glucksmann, berühmter französischer
       Philosoph, ist gestorben. Er wurde 78 Jahre alt.
       
       Was für ein aufregendes, intellektuell befriedigendes Leben dieser Mann
       hatte. Über Tote ja nie Schlechtes, aber man darf vermuten, dass es eine
       Fülle von klassischen Linken gibt, die in ihm den Verräter ihrer Welt sahen
       und nun recht froh sind, dass von ihm kein Ärger mehr zu gewärtigen ist.
       
       Glucksmann, 1937 in Boulogne-Billancourt geboren, ist das Kind von
       osteuropäischen Juden, aus europäischen Gegenden, die von
       Nationalsozialisten wie Stalinisten besonders blutig heimgesucht wurden.
       Die Mutter und der Vater Glucksmanns lernten sich in Palästina kennen,
       wanderten nach Deutschland aus, wo sie 1933 vor den Nazis flohen, nach
       Frankreich. Sein Vater kam dort beim Einmarsch deutscher Truppen ums Leben.
       
       André Glucksmann wurde nicht in ein KZ deportiert, weil er in Frankreich
       geboren wurde – und Franzose war. Das muss gewusst sein, weil Glucksmann
       zeitlebens kaum etwas mehr politisch irritierte, als wenn Staaten, wie die
       Bundesrepublik, kein republikanisches Verständnis – also blutsfernes – vom
       Staatsbürgerrecht haben. Damals war längst biografisch angelegt, dass einer
       wie dieser spätere Philosoph ein laizistisches Verhältnis zum Zusammenleben
       hat – religionsfern, aber nicht glaubensfeindlich.
       
       ## Ein großer Weltverbesserer
       
       Glucksmann, ein fleißiges, wissbegieriges, auf noble Leistungen abonniertes
       Kind, studierte Philosophie in Lyon und an der Elitehochschule École
       normale supérieure de Saint-Cloud, verlegte sich bei Raymond Aron auf das
       Studium von Krieg, Abschreckung und nuklearer Strategie – und war vor allem
       ein glühender Weltverbesserer. Maoist, später Teil der illegalen Gauche
       prolétarienne – ehe ihm die Schriften Alexander Solschenizyns in die Hände
       fielen, Berichte aus dem realen Sozialismus, aus den Gulags, aus dem, was
       zum Erbe der totalitären Diktaturen Osteuropas beschrieben wurde: Systeme
       des Terrors, der Angst, der Unfreiheit, der Einschüchterung. Glucksmanns
       Diagnose des sowjetisch-unfreiheitlichen Komplexes lautet: Aus einem der
       größten Freiheitsbegehren wurde durch den Stalinismus das zynischste
       Machtsystem.
       
       1976 erschien seine Schrift „Köchin und Menschenfresser – über die
       Beziehung zwischen Staat, Marxismus und Konzentrationslager“. Ausgerechnet
       beim Wagenbach-Verlag in Westberlin: Das war Verrat eines Zentrums linker
       Publizistik. Aber Glucksmann zeigte, wie sehr die französischen
       Intellektuellen gelernt hatten, sich von den stalinistischen
       Einschüchterern der Linken zu entfernen. Glucksmann und viele andere
       wollten sich auf keinen Fall jener Logik unterwerfen, von der auch die RAF
       & Co. in den deutschen Siebzigern zehrte: Wenn du nicht für mich bist, bist
       du ein Teil des Problems.
       
       1977 die nächste Unverschämtheit, eine ins Herz der deutschen Linken
       zielende Schrift mit dem Titel „Die Meisterdenker“. Gemeint waren Hegel,
       Fichte, Nietzsche und Marx – sie würden eine romantische Überhöhung des
       Revolutionsgedankens pflegen.
       
       ## Europa als politisches Kunstwerk
       
       Glucksmann war aufgebrochen, sich von der Erpressung der kommunistischen
       Internationale zu lösen. „Ideologien sind das Alibi des Hasses“, sagte er
       2004 dem Spiegel, und: „Um seine Zerstörungskraft zu entfalten, muss Hass
       kollektiv werden.“ Europa war für Glucksmann – der vermutlich ein Gros der
       Popularität speziell seiner Person einem unverschämt guten Aussehen
       verdankte – eine Errungenschaft, ein politisches Kunstwerk. Zur Entwicklung
       des Politischen formulierte er: „Eine Zivilisation gründet sich nicht
       unbedingt auf das gemeinsam angestrebte Beste, sondern auf die Ausgrenzung,
       die Tabuisierung des Bösen.“ Man könnte heute darin einen Kommentar zu den
       Protesten gegen die Europavergifter namens Orbán, Le Pen oder auch Pegida
       lesen.
       
       Glucksmann hatte es gern mit Pathos und Pomp: Das mochten die stilistisch
       eher grauen Intellektuellen, die Buchhalter des Zeitgeistigen, gar nicht,
       diese Flamboyanz, diese Schamlosigkeit, das Schöne und Gelingende im Jetzt
       zu entdecken. Und hatten diese niederflurigen Denker nicht recht? Irrte
       Glucksmann nicht in seiner Emphase für die tschetschenischen Terroristen in
       Russland? War es nicht fragwürdig, 2007 für Nicolas Sarkozy Partei zu
       ergreifen?
       
       Andererseits: Glucksmann hat lange vor dem deutschen Diskurs kühl den Krieg
       gegen das aggressive Serbien Miloševićsgewünscht; hat den Arabischen
       Frühling gefeiert, das Bombardement Libyens gefordert. Er hat in Frankreich
       Minderheitenschutz eingeklagt, für Roma, für Migranten, für Muslime, für
       alle, die diskriminiert werden. Denn, so Glucksmann, die Demokratie ist ein
       Mittel, um Freiheit zu organisieren, aber vor allem ist sie keine Instanz,
       die ermittelt, wer über andere herrscht. Sie ist vielmehr gut für
       Minderheiten – denn Staaten und Gesellschaften ohne demokratisches
       Selbstverständnis verfolgen, wenn es passt, zur Not alles Minoritäre.
       
       10 Nov 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jan Feddersen
       
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