# taz.de -- Russisches Militär in Syrien: Gefährliches Kalkül
       
       > Russische Kampfflieger bombardieren syrische Ziele – allerdings nicht die
       > vom IS kontrollierten Gebiete. Putin hat ganz andere Interessen.
       
 (IMG) Bild: Koch und Kellner: Russlands Präsident lässt Syriens Oberhaupt im Hintergrund sitzen
       
       Berlin taz | „Wir hören die Funksprüche der Piloten ab. Dieses Mal haben
       wir nur Russisch abgefangen“, berichtet ein syrischer Aktivist der
       deutschen Organisation Adopt A Revolution. Im Gegensatz zur syrischen
       Luftwaffe fliege die russische in Formationen von drei bis vier Kampfjets.
       Pro Flugzeug schieße sie mehrere Raketen ab. „Sie vernichten alles um sie
       herum“, sagt der junge Mann, der in der nordwestsyrischen Stadt Kafr Nabul
       lebt.
       
       Die Opfer sind Zivilisten, Revolutionäre und gemäßigte Rebellen der Freien
       Syrischen Armee (FSA). Denn Kafr Nabul, im Norden von Hama gelegen, ist das
       mediale Epizentrum der syrischen Revolution, seit 2011 berühmt für die
       farbigen und scharfsinnigen Plakate, die nicht nur den Krieg, sondern vor
       allem das Versagen der internationalen Gemeinschaft anprangern. Der
       Islamische Staat (IS) hingegen ist 100 Kilometer weiter östlich aktiv, auch
       die Nusra-Front, der syrische Ableger von al-Qaida, ist hier bislang
       erfolgreich abgewehrt worden.
       
       Kafr Nabul ist kein Einzelfall. Die mehr als 60 Ziele der russischen
       Angriffe liegen überwiegend in den Provinzen Idlib und Hama sowie im Umland
       von Homs und nördlich von Latakia. Dass diese Orte attackiert wurden, ist
       unstrittig: Russland und das Regime von Baschir al-Assad nennen die Namen,
       die Aktivisten, Journalistenund Rebellen vor Ort bestätigen. Damit entlarvt
       sich Moskaus Antiterrorpropaganda selbst. Denn keine der bombardierten
       Gegenden wird vom IS kontrolliert.
       
       Der Kreml veröffentlicht Luftaufnahmen von präzisen Schlägen auf
       vermeintliche IS-Stellungen bei Hama. Der örtliche FSA-Kommandeur sagt: Ja,
       das war unser Hauptquartier. Die zivilen Rettungskräfte der White Helmets
       dokumentieren den Tod eines Kollegen durch einen russischen Doppelangriff
       in der Provinz Idlib. Im Norden der Provinz Latakia bestätigt ein
       Mitarbeiter von Ärzte Ohne Grenzen den Einschlag einer russischen Rakete 50
       Meter neben einem Krankenhaus, das evakuiert werden musste.
       
       ## Nach Assads Abgang
       
       Was also tut Russland in Syrien? Vordergründig hilft Putin seinem
       Verbündeten Assad. Er lässt dort angreifen, wo das Regime von verschiedenen
       Rebellengruppen bedrängt wird.
       
       Aber es steckt mehr dahinter. Mittelfristig geht es Putin nicht um Assad,
       sondern um Moskaus Einfluss in der Region. Russland bereitet sich auf die
       Zeit nach Assad vor – egal was folgt, ohne Moskau wird es nicht gehen.
       Gleichzeitig treibt Putin den Preis nach oben, den der Westen ihm für den
       Abgang Assads zahlen muss. Das ist ein makabres geostrategisches Spiel.
       
       Aber der Kreml könnte sich verkalkulieren: Er hat die Auswirkungen seiner
       Militärkampagne auf die Menschen im Land nicht genügend bedacht. Diese
       lässt Assad nicht stark, sondern schwach erscheinen, auch die
       Küstenbewohner sehen Assad zunehmend als Marionette in den Händen der
       Iraner und Russen.
       
       Für die Rebellen – die gemäßigten der FSA wie die islamistischen, die zum
       Teil mit der Nusra-Front zusammenarbeiten – ist Russland jetzt erklärter
       Feind. Angriffe auf russische Militärbasen sind in Planung, die ersten
       getöteten russischen Soldaten werden Putin zu Hause in Erklärungsnot
       bringen.
       
       ## Russland als Hassobjekt
       
       Für den zivilen Widerstand hat sich Putin als Vermittler disqualifiziert.
       Und die Menschen, die jetzt nicht mehr nur Assads unpräzisen Fassbomben,
       sondern auch modernen russischen Raketen ausgesetzt sind, werden das Land
       verlassen, sich radikalisieren oder in ihrer Verzweiflung Schutz beim IS
       suchen.
       
       Langfristig tappt Moskau in die bislang für Amerikaner reservierte
       George-W.-Bush-Falle: Direktes militärisches Eingreifen mit vielen zivilen
       Toten lenkt den Hass breiter Bevölkerungsteile auf die Fremdherrschaft. Im
       Falle Putins ist es die offensichtliche Unterstützung des Massenmörders
       Assad, der – als Alawit mit schiitischer Unterstützung des Iran und
       christlicher Hilfe Russlands (der Kreml holt sich dafür sogar den Segen der
       orthodoxen Kirche) – das syrische Volk vernichtet. Damit wird Russland zum
       Hassobjekt der Sunniten in der Region. Das meinte US-Präsident Obama, als
       er die Unfähigkeit Moskaus, zwischen gemäßigten Assad-Gegnern und
       dschihadistischem Terror zu unterscheiden, als „Rezept für eine
       Katastrophe“ bezeichnete.
       
       Wie geht es also weiter? Für den Beginn einer Lösung in Syrien müsste
       dreierlei passieren: Erstens müssten die Unterstützer der syrischen
       Opposition entschlossener und geeinter auftreten. Schließlich greifen
       aufseiten des Regimes zwei Staaten (Iran und Russland) und eine Miliz
       (libanesische Hisbollah) in das Kriegsgeschehen ein. Jetzt will Washington
       mit 20.000 kurdischen und 5.000 arabischen Kämpfern den IS in dessen
       syrischer Hauptstadt Rakka bedrängen. Sollte Russland sich daran nicht
       beteiligen, wäre das russische Märchen vom internationalen Kampf gegen den
       IS vorbei, ehe es begonnen hat.
       
       ## Schutz der Zivilisten
       
       Zweitens sollten Verhandlungen darauf abzielen, staatliche Strukturen in
       Syrien zu bewahren, denn das wollen sowohl die USA als auch Russland. Wer
       Syriens Staatlichkeit retten will, braucht einen politischen Übergang, aus
       dem sich Assad besser früher als später verabschiedet.
       
       Wenn Russlands Außenminister Sergei Lawrow es also ernst meint mit seiner
       Vorstellung, dass „das gesamte Spektrum der syrischen Gesellschaft sich auf
       einen säkularen demokratischen Staat einigt, der alle Minderheiten
       schützt“, und dass die Freie Syrische Armee und andere „patriotische
       Oppositionelle“ Teil dieses politischen Prozesses sein müssen, dann sollte
       er zunächst dafür sorgen, dass ebendiese Kräfte nicht mehr bombardiert
       werden.
       
       Was zum dritten Punkt führt, dem Schutz von Zivilisten. Bei allem, was in
       Syrien geschieht – politische Verhandlungen, Kampf gegen den IS –, muss
       sich gleichzeitig die Lage der Menschen vor Ort verbessern. Mit Bomben auf
       Zivilisten lassen sich weder Fluchtursachen bekämpfen noch politische
       Kompromisse schließen noch der IS bekämpfen.
       
       Angeblich zeigt sich Putin für die Einrichtung humanitärer Korridore offen.
       Das wäre ein erster Schritt – bitte mit UN-Mandat und bitte schnell.
       
       5 Oct 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Kristin Helberg
       
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