# taz.de -- Das Recht auf die eigene Entscheidung
       
       > GESCHLECHT Bei Intersexuellen kommt es bis heute oft zu
       > geschlechtsverändernden Operationen im Kindesalter.
       > Intersex-AktivistInnen fordern deswegen die Selbstbestimmung über ihren
       > Körper ein
       
 (IMG) Bild: Wer bin ich? Rechtlich gilt nur: Mann oder Frau
       
       von ANGELIKA FRIEDL
       
       Unsere Welt ist selten bequem in Schwarz und Weiß aufzuteilen. Die Natur
       ist ebenso vielfältig wie der Mensch in allen Facetten. Das betrifft auch
       die Frage nach dem Geschlecht. Zu allen Zeiten wurden Kinder geboren, die
       nicht klar dem weiblichen oder männlichen Geschlecht zuzuordnen waren.
       Experten des UN Human Rights Council schätzen, dass heute etwa 0,5 bis 1,7
       Prozent der Menschen mit intergeschlechtlichen Merkmalen zur Welt kommen.
       
       Viele Eltern sind zunächst verunsichert, wenn die Frage nach dem Geschlecht
       ihres Babys nicht sofort eindeutig zu beantworten ist. „Sie werden dann mit
       einer Sprache konfrontiert, bei der sie gleich an eine Krankheit denken
       müssen. Das macht ihnen Angst“, berichtet Ev Blaine Matthigack von der
       Beratungsstelle „Inter* und Trans*“ des Projekts „Queer
       Leben/Schwulenberatung Berlin“.
       
       Laut Matthigack ist die Pathologisierung Intersexueller aber der völlig
       falsche Weg. Als Folge kommt es oft zu irreversiblen,
       geschlechtsverändernden Eingriffen in der frühen Kindheit. Diese können zu
       Traumatisierungen und lebenslangen somatischen und psychischen Problemen
       führen. „Es ist wichtig, Druck und Tempo aus Entscheidungen zu nehmen, die
       unwiederbringlich die Weichen für das spätere Leben stellen“, sagt
       Beraterin Matthigack. Eltern brauchen daher einen Anlaufpunkt, den sie
       regelmäßig aufsuchen können und wo neben Erstgesprächen auch längerfristige
       Beratungen angeboten werden.
       
       ## Beratungsstelle Inter*
       
       Seit Juli 2014 gibt es jetzt dafür – einzigartig in Deutschland – die
       Beratungsstelle „Inter* und Trans*“ in der Glogauer Straße in Kreuzberg.
       Bei ihren Beratungen stellt Ev Matthigack eines gleich klar:
       Intergeschlechtlichkeit ist keine Krankheit – eine Einstellung, die noch
       keineswegs allgemein akzeptiert ist. Selbst die Bundesärztekammer (BÄK)
       nennt in ihrer neuesten Stellungnahme zu Besonderheiten der
       Geschlechtsentwicklung Intergeschlechtlichkeit immer noch „DSD“ (Disorder
       of Sex Developments). Immerhin relativierte BÄK-Vorstandsmitglied Heidrun
       Gitter später die Wortwahl etwas: „Die Gleichsetzung von DSD mit
       Fehlbildung oder Krankheit ist nicht angemessen.“ Außerdem empfiehlt die
       BÄK nun, bei Neugeborenen und Kleinkindern, die intersexuell geboren
       werden, nicht notwendigerweise operative Eingriffe zur
       Geschlechtsangleichung durchzuführen, sondern den individuellen Verlauf zu
       berücksichtigen.
       
       Operationen im Kindesalter kommen aber immer noch vor. Obwohl mittlerweile
       viele Studien vorliegen, wonach solche gewaltvollen Eingriffe von den
       Betroffenen überwiegend als Trauma erlebt werden. So müssen
       Intergeschlechtliche in vielen Fällen das ganze Leben Hormone einnehmen,
       wenn die Keimdrüsen des Hoden- oder Eierstockgewebes entfernt wurden. Nicht
       selten werden Intergeschlechtliche sogar mehrfach operiert, ohne dass man
       ihnen sagt, warum dies nötig sei. Was bei den Kindern weitere Ängste
       auslöst.
       
       Es waren betroffene intergeschlechtliche Menschen, die sich seit Anfang der
       90er Jahre zuerst in den USA gegen eine als Bevormundung und gewalttätige
       Verstümmelung erlebte medizinische Praxis zu wehren begannen. Seither
       treten sie für Regelungen ein, die eine Selbstbestimmung über den eigenen
       Körper und die eigene geschlechtliche Verortung ermöglichen.
       
       Auch wenn Ev Matthigack intergeschlechtliche Erwachsene berät, geht es oft
       um uneingewilligte geschlechtsverändernde Eingriffe und ihre Folgen. Umso
       bedeutsamer empfindet Matthigack jetzt die Aufgabe, Eltern bei ihren
       Entscheidungen zur Seite zu stehen. „Kinder können gut aufwachsen, wenn
       ihre körperliche Integrität gewahrt wird und sie selbstbestimmt und
       altersgemäß über ihre Körper entscheiden können.“
       
       Die Eltern sollten vor allem wissen: Intergeschlechtlich geborene Kinder
       sind in der Regel gesund geborene Kinder. Eine frühzeitige Aufklärung und
       Beratung für Eltern, Mediziner und Pflegepersonal kann den Weg dafür ebnen,
       dass Kinder sich so, wie sie sind, akzeptieren. Das ist ein Ansatz, der
       Nachahmer findet. Matthigack hat zum Beispiel erst vor wenigen Wochen mit
       dem St.-Josephs-Krankenhaus in Tempelhof vereinbart, eine entsprechende
       Fortbildung für interessierte Mitarbeiter des Krankenhauses anzubieten.
       
       Seit November 2013 können Kinder, die weder eindeutig männlich noch
       weiblich sind, in das Geburtenregister eingetragen werden, ohne ein
       Geschlecht angeben zu müssen. Nur eine Woche hat man dafür Zeit. Was auf
       den ersten Blick fortschrittlich aussieht, birgt einige Probleme.
       Inter*Aktivisten kritisieren, dass dadurch der Druck auf Eltern wachse,
       eine genitalverändernde Operation zu erlauben, damit das Kind wenigstens
       „ein Geschlecht“ habe. Stattdessen fordern sie vom Gesetzgeber Regelungen,
       die nicht selbst eingewilligte kosmetische Eingriffe untersagen und eine
       geschlechtliche Selbstbestimmung ermöglichen.
       
       Geändert werden müsste auch, dass das deutsche Recht bisher nur zwei
       Geschlechtskategorien kennt: Mann oder Frau. Eine Ehe oder eine
       Lebenspartnerschaft mit einer Person unbestimmten Geschlechts ist zum
       Beispiel zurzeit noch gar nicht möglich. Frühere Zeiten waren da schon
       einmal fortschrittlicher. So hat das Preußische Allgemeine Landrecht von
       1794 Eltern erlaubt, bei der Geburt von Zwittern ein „Erziehungsgeschlecht”
       zu wählen. Mit 18 Jahren konnten die Kinder dann selbst entscheiden,
       welchem Geschlecht sie sich zugehörig fühlten.
       
       26 Sep 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Angelika Sylvia Friedl
       
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