# taz.de -- Kursbuch-Herausgeber im Porträt: Der Intellektuelle als Übersetzer
       
       > Wozu braucht es Intellektuelle, wenn wir Fernsehclowns haben? Armin
       > Nassehi sucht einen Weg jenseits von rechts und links.
       
 (IMG) Bild: Der Soziologe und Kursbuch-Herausgeber Armin Nassehi.
       
       Armin Nassehi landet mit dem Abendflug aus Köln in Berlin-Tegel. Kleiner
       Koffer, großes Lächeln. Er war die Woche über in struktur-akademischen
       Angelegenheiten unterwegs. Weil im Auto auch noch ein wichtiger
       Fußballjournalist sitzt, gibt er sich umgehend als Schalke-Fan zu erkennen.
       Trotzdem ist er voll fußballdiskursfähig.
       
       Nassehi, Jahrgang 1960, ist Soziologieprofessor in München und Herausgeber
       des legendären Kursbuchs, das in diesem Jahr 50. Geburtstag feiert. Es
       wurde 1965 von Hans Magnus Enzensberger und dem Suhrkamp-Lektor Karl Markus
       Michel gegründet und war 1968 und in der Folge das wichtigste Theorieorgan
       der Kulturlinken und marxistisch orientierten Außerparlamentarischen
       Opposition (APO) der Bundesrepublik.
       
       Wenn man etwas „legendär“ nennt, ist das häufig gleichbedeutend mit: der
       Gegenwart entrückt. Tatsächlich war das Kursbuch 2008 eingestellt worden,
       ehe die Verleger Sven Murmann und Peter Felixberger es 2012 mit Nassehi als
       Herausgeber wiederbelebten. Aber wie kann ein Format des 20. Jahrhunderts,
       eine Vierteljahresschrift voller Essays, eine Teilgesellschaft in einer
       anderen technologischen und politischen Verfasstheit geistig erregen – oder
       geht das gar nicht?
       
       „Das ist die Frage, die wir uns auch stellen“, sagt Nassehi später bei
       Schnitzel und Rosé. „Wenn man es ernst nimmt, ist das nicht mal 20. sondern
       19. Jahrhundert. Lange Texte auf Papier, die Form der klassischen
       Intellektuellen.“ Er ist kein Riese und auch nicht dünn, trägt den Kopf
       haarfrei, seine Stimme hat Ruhrgebietsfärbung, was dem Aufwachsen in
       Gelsenkirchen geschuldet ist. Geboren ist er in Tübingen als Sohn einer
       Schwäbin und eines Iraners. Ein schwarzes Hemd hat er an, sonst wirkt er
       uninszeniert.
       
       ## Hart und kokett
       
       Sein Kursbuch stehe für Revitalisierung von Intellektualität, sagt er. Aber
       es steht nur dafür, das weiß er auch. Und er weiß, dass die alten Zeiten
       unwiederbringlich vorbei sind, obwohl zuletzt einige bemerkenswerte
       Ausgaben erschienen sind (etwa „1964“, „Ist Moral gut?“, „Rechte Linke“).
       Der Titel des Jubiläumsheftes lautet dementsprechend „Das Kursbuch. Wozu?“.
       Das ist gleichzeitig hart und kokett und entspricht Nassehis Entspanntheit
       und Selbstironiefähigkeit. Peter Felixberger, seit diesem Jahr
       Mitherausgeber, und er versuchen das „Dazu“ zu begründen über ein
       Nichtfestgelegtsein auf „das Richtige“ und ein Gespür für das Thema.
       
       Gerade ist Kursbuch 183 erschienen und es heißt passgenau: „Wohin
       flüchten?“. Darin erklärt er den Hass mancher Menschen gegen primär
       ökonomisch motivierte Flüchtlinge als Folge des Verständnisses
       ungerechtfertigter Privilegierung (Taschengeld- und Handyressentiments),
       weil entkoppelt von ihrem Lebensverständnis, dass staatliche Leistungen an
       Arbeit gekoppelt sind.
       
       Zu Spitzenzeiten 1970 verkaufte Kursbuch 20.000 Exemplare, die Leute
       stritten in den berühmten WG-Küchen über Texte, Autoren und Theorien. Der
       Coup damals war, sagt Nassehi: „Das Intellektuelle ist in die Lebenswelten
       reingeknallt.“ Sex, Drogen, Rock ’n’ Roll, Emanzipations- und
       Lustbewegungen, alles theoretisch durchdrungen. Auch moralische
       Restriktionen im Handeln, Kaufen, Sagen, Denken: Was darf man, was auf
       keinen Fall? Grundsätzlich schien alles klar und übersichtlich: gut wir,
       böse die. Texte hießen zum Beispiel: „Die Avantgarde der Studenten im
       internationalen Klassenkampf“. Einer der frühen Autoren war Fidel Castro.
       
       Eine Intellektuellenzeitschrift heute kann die enger gewordenen Grenzen des
       Mediums nicht sprengen. Sie kann auch die dramatische Veränderung in puncto
       gesellschaftliche Stichwortgeber nicht ad absurdum führen. Die
       Wirkungskräfte der Gegenwart sind Fernsehclowns (das ist nicht
       despektierlich gemeint) mit maximaler Digitalreichweite wie Oliver Welke
       und Jan Böhmermann.
       
       ## Theoretische Prüfung
       
       Theorie kennen sie schon auch – aus der Führerscheinprüfung. Ihr Publikum
       schätzt sie als witzig und intelligent. Wie auch sich selbst. Aber auch die
       Zeitungsfeuilletons wollen Raketen auf Facebook zünden. Der übliche Reflex
       wäre nun larmoyanter Kulturpessimismus, aber so ist Nassehi eben nicht
       drauf. Der klassische Nachkriegs-Linkstheoretiker, das beschreibt Hannelore
       Schlaffer in der Jubiläumsausgabe, gilt nach 1989 durch den Zusammenbruch
       des Sozialismus als desavouiert und etwas blind für die Realität: Alles
       drängt in den Kapitalismus, nicht heraus. Nun war der Linksdenker zwar
       beileibe nicht der einzige Blinde. Aber von ihm hätte man halt mehr
       erwartet. Dementsprechend hätten seine Publikationsorte an Wert verloren,
       auch Zeitungen.
       
       Für Nassehi ergeben sich daraus zwei fundamentale Veränderungen, um in der
       Gegenwart relevante Kritik üben zu können, in der es die bipolare
       ideologische Welt nicht mehr gibt, aber dafür die digitale. Erstens: nicht
       mehr vor einem weißen Blatt Papier sitzend kritische Idealwelten
       („Utopien“) entwerfen, sondern seine Sprecherrolle verändern. „Will man mit
       Kritik etwas erreichen, muss man die real existierenden Ressourcen
       reflektieren, die da sind.“ Das ist der Satz, der die einen jubeln lässt –
       und die anderen abkotzen. Er fügt noch einen hinzu: „Der Intellektuelle
       muss heute eher ein Kybernetiker sein, um mit den Wirkkräften der
       Gesellschaft umgehen zu können.“
       
       Was Nassehi damit meint, steht in seinem aktuellen Buch „Die letzte Stunde
       der Wahrheit“ (Murmann). Untertitel: „Warum rechts und links keine
       Alternativen mehr sind.“ Damit wir uns nicht falsch verstehen: Für Rechts
       gebe es normativ keine Begründung. „Aber das Böse ist auch in uns, nicht
       nur in den bösen Glatzköpfen. Obwohl, das kann ich jetzt schlecht sagen.“
       
       Vor allem: Man könne Gesellschaft mit Rechts-links-Denken nicht
       beschreiben. Auch ihn beunruhigt, dass es in Europa verstärkt Bedarf gibt,
       die Welt rechts zu sehen, also über Homogenität von Rassen, Nationen,
       Religionen. Aber auch das Festhalten am klassischen Linken sei nur der
       Versuch, die Komplexität der Realität zu dämpfen.
       
       Herkunft und Besitzverhältnisse strukturieren die Welt, klar, aber
       Kapitalismuskritik bringt es nicht. Weil es die Realität der Gesellschaft
       verfehle in der Reduzierung auf das wirtschaftliche System und im
       Phantasma, die Gesellschaft „umbauen“ zu können; und gleichzeitig an eine
       Adresse gerichtet sei, „wo niemand die Post liest.“ Die moderne
       Gesellschaft besteht aus verschiedenen, sich reproduzierenden Systemen.
       Jedes hat eine eigene Sprache, eigene Ziele (z. B. Macht in der Politik)
       und eine eigene, eingeschränkte Weltsicht. Was politisch sinnvoll ist, kann
       wirtschaftlich falsch sein. Ein Grexit kann eine soziale Katastrophe sein –
       und ökonomisch nicht komplett bescheuert. Der linke Ölscheichkapitalismus
       in Lateinamerika: sozial ein Fortschritt, ökologisch ein Desaster. Oder
       wenn Kinderarbeit Familien ernährt und ein Verbot ihre Überlebensbasis
       zerstört.
       
       ## Verteilte Intelligenz
       
       Nassehi will nicht so tun, als gebe es einen Punkt, von dem aus die
       Unterschiede zu steuern oder gar zu synchronisieren wären (die richtige
       Koalition, die richtige Politik, die richtige Ideologie, die richtige
       Moral). Was bleibt? Für Nassehi ist das ganz heiße Ding der Gegenwart:
       verteilte Intelligenz als Absage an die Illusion, es gäbe einen
       Zentralrechner. Übersetzung statt Integration. Die Komplexität akzeptieren,
       aus dem einen System in das andere übersetzen und dadurch die Basis
       herstellen, dass noch was geht. Der Kritiker von heute ist Übersetzer. Für
       Nassehi ein Begriff, in dem sehr viel steckt: Empathie, Interesse,
       Bereitschaft am einzig möglichen Zusammen; einem konstruktiven
       Nebeneinander.
       
       Der Medientheoretiker Norbert Bolz hat das als „Luhmann Light“ abgetan. Als
       „Soziopoesie“. „Die Rezension war eine Frechheit“, sagt Nassehi. Schrieb er
       ihm auch. Das sei eben eine akademische Borniertheit, die es immer schon
       weiß und sich auf verteilte Intelligenz gar nicht erst einlässt. Nassehi
       ist kein Weggefährte des Bielefelder Professors und war auch kein
       Hirn-Groupie. Persönlich traf er Luhmann nur zwei Mal.
       
       Es stimmt aber, dass dessen Systemtheorie für ihn zentral ist. Vereinfacht
       gesagt, geht es da um ein Modell zum Verstehen der Komplexität der Welt
       über Systeme, das sind Sinn- und Kommunikationseinheiten wie Familie,
       Partei oder Staat. Aber erstens sei es ja gerade der tiefere Sinn dieses
       Buchs, aus der Soziologie zu übersetzen für Leute, die nicht in den
       Verästelungen der Systemtheorie drin sind: nicht zu komplex beschreiben,
       wie komplex alles ist. Zweitens stimme der Vorwurf auch inhaltlich nicht.
       „Eliten müssen heute Übersetzungskompetenz besitzen“, sagt er.
       „Unterschiedliches zusammendenken.“
       
       Im übrigen sei er nicht fußballdiskursfähig, obwohl er Schalke-Fan sei.
       Sondern weil.
       
       6 Sep 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Peter Unfried
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Intellektuelle
 (DIR) Kapitalismus
 (DIR) Schlagloch
 (DIR) Jan Böhmermann
 (DIR) ZDF
       
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