# taz.de -- Einmaliges Inklusionsmodell in Bremen: Status: beeinträchtigt. Beruf: TänzerIn
       
       > Bremen hat nun ein bundesweit bislang einmaliges Arbeitsmodell:
       > Behinderte TänzerInnen arbeiten fest angestellt in Produktionen.
       
 (IMG) Bild: Werkstatt-Szene: Wer kann wie mit wem? Rechts im Bild: Trainerin Doris Geist.
       
       „Ich heiße Neele Buchholz. Ich bin bei Tanzbar Bremen angestellt.“ Diese
       schlichten Worte haben historische Dimension: Die 23-jährige Neele Buchholz
       ist die erste Deutsche mit Down-Syndrom, die als professionelle Tänzerin
       arbeitet. Fest angestellt, sozialversicherungspflichtig, eingebettet in ein
       sechsköpfiges inklusives künstlerisches Team. In Europa gab es
       Vergleichbares bislang nur in Großbritannien und Spanien.
       
       Die Pressekonferenz des Bremer Projekts „Kompetanz“, auf der sich Neele
       Buchholz als hauptamtliche Mitarbeiterin präsentiert und von Workshops und
       geplanten Tanzproduktionen berichtet, war ein Meilenstein. Ein Meilenstein
       der Inklusionsgeschichte, der zugleich den vorläufigen Höhepunkt einer
       langen, mühevollen Geschichte markiert. Seit mindestens zehn Jahren bemühen
       sich die MacherInnen von Kompetanz um den Aufbau von Strukturen, die
       inklusive künstlerische Arbeit auf professionellem Niveau ermöglichen.
       
       Mit sechs festen Arbeitsplätzen, organisiert über einen Verein, kann
       Kompetanz jetzt durchstarten. Zwar befristet, aber
       sozialversicherungspflichtig, sozusagen erster Arbeitsmarkt at its best.
       Und die Befristung auf zunächst drei Jahre? Die klingt in den Ohren
       Selbstausbeutungs-sozialisierter KünstlerInnen, die sich ansonsten von
       Projektantrag zu Projektantrag hangeln, wie eine halbe Ewigkeit. Für die
       Beeinträchtigten unter ihnen – vier der sechs Angestellten – lag ein
       solches Arbeitsverhältnis bislang ohnehin außerhalb aller Möglichkeiten.
       
       In den beteiligt en Ämtern und Behörden setzte das einen längeren
       Umdenkprozess voraus. „Das war nicht so ganz einfach, die Kollegen von
       diesem Vorhaben zu überzeugen“, sagt Thomas Mundl vom Bremer
       Integrationsamt. Jetzt aber stünden alle dahinter. Das zeigen auch die
       Zahlen: Immerhin 600.000 Euro investiert das Integrationsamt für die
       kommenden drei Jahre, anschließend könnte in abgespeckter Form weiter
       gefördert werden.
       
       ## Tänzer bringen persönliches Arbeitsbudget mit
       
       Von der Agentur für Arbeit werden in dem ersten drei Jahren rund 200.000
       Euro hinzu kommen – abhängig davon, wie viele Teilnehmer ihr persönliches
       Budget für Arbeit einbringen. Das liegt bei etwa 600 bis 700 Euro pro
       Mensch und Monat. Das persönliche Arbeitsbudget ist ein Instrument, das
       beeinträchtigten Menschen die individuelle Suche nach Arbeit ermöglichen
       soll, nach Alternativen zur beschützten Werkstatt – das bislang aber nur
       auf dem Papier existierte. Nun leisten die TänzerInnen Pionierarbeit.
       
       Für die MacherInnen inklusiver Kunst war es immer ein großes Thema, als
       „regulärer“ Teil des Kulturbetriebes wahrgenommen und gefördert zu werden –
       statt als Nice-to-have-Anhängsel, das aus dem Sozialtopf alimentiert wird.
       Nun kommt ein neuer Aspekt hinzu: Ökonomie. „Wir müssen beweisen, dass wir
       wirtschaftlich arbeiten“, sagt Corinna Mindt, die künstlerische Leiterin.
       
       ## Projekt ist Teil der Kreativwirtschaft
       
       Während der ersten drei Jahre gibt es konkrete ökonomische Vorgaben, es
       gibt externe BeraterInnen, die auch die Einhaltung des Business-Plans
       beobachten. Inklusive Tanzprojekte als Teil der Kreativwirtschaft: bedeutet
       das ökonomischen Druck oder drückt sich darin sogar Wertschätzung aus –
       nach dem Motto: Ihr seid so gut, dass Ihr reguläres Geld verdienen könnt?
       „Wir haben Produkte, die schon ganz gut auf dem Markt sind“, sagt Mindt.
       Was aus dem Mund eines, sagen wir, Sportwerbung-Vermarkters wie eine
       Business-Phrase klänge, lässt bei Mindt ein neues, sie manchmal noch selbst
       überraschendes Selbstbewusstsein erahnen. Jedenfalls sieht sie im durchaus
       auch ökonomisch orientierten Projektzuschnitt eher eine Chance als eine
       Bürde.
       
       Schon jetzt, ganz ohne Werbung, haben die Tandem-Teams, in denen Behinderte
       und Nicht-Behinderte gemeinsam etwa in Schulprojekten unterrichten,
       reichlich zu tun. Kompetanz ist das richtige Projekt zur richtigen Zeit –
       das freilich schon vorbereitet worden ist, als es noch nicht „an der
       richtigen Zeit“ war: als noch keine UN-Behindertenrechts-Konvention die
       Verhältnisse auf den Kopf stellte. Besser gesagt, vom Kopf auf die Füße,
       auf Füße jeder Art.
       
       Die Kompetanz-Leute arbeiten schon jahrelang zusammen, trainieren jede
       Woche mehrfach, sammeln Erfahrungen mit den Interaktions-Möglichkeiten
       verschiedenster Beeinträchtigungen: Wie passt man Sprünge
       bewegungsästhetisch an die körperlichen Bedingungen beinloser TänzerInnen
       an? Wie „übersetzt“ man nicht nur Bewegungs-Sequenzen, sondern auch die
       gesamte Trainings- und sonstige Kommunikation? Konkret: Wie kann eine
       Gehörlose mit einem Mittänzer kommunizieren, dem zum Gebärden nur eine
       einzige Gliedmaße zur Verfügung steht? Nun können die Kompetanzler all das
       endlich in Ruhe erforschen, sie können produzieren, ohne zuvor zig
       Projektanträge gestellt zu haben.
       
       ## Langfristigere Planung
       
       Noch relativ neu dabei sind AbsolventInnen der Werkstufe des Bremer
       Schulzentrums Neustadt. Nun können sechs von ihnen bis zu anderthalb Jahre
       bei Kompetanz mitarbeiten – daraus könnte sich ein zweites Standbein des
       Vereins entwickeln. Drei gemeinsame Produktionen haben sie zuvor schon auf
       die Beine gestellt. „Dabei mussten wir zunächst lernen“, resümiert Mindt,
       „dass die Integration unserer Arbeit in den Schulalltag einer deutlich
       langfristigeren Planung bedarf, als wir das gewohnt waren.“
       
       „Anfangs“, erzählen die Schülerinnen Trudi und Lisa, hätten sie die
       Verständigung mit der gehörlosen Trainerin Doris Geist sehr schwierig
       gefunden – „aber dann konnten wir immer mehr miteinander reden“. Mindts
       Kollege Günther Grollitsch wiederum beschreibt, wie Trudi „eine sehr
       introvertierte Person zu sein schien, deren starke Präsenz als Darstellerin
       jedoch ausgesprochen positive Rückmeldungen“ hervorrief.
       
       „Vielen Schülern hat das einen enormen Schub an Souveränität gegeben“,
       bestätigt Schulleiter Wolfram Grams. Und das im biografisch entscheidenden
       Übergang zwischen Schule und Arbeit – die dann nicht mehr einigermaßen
       „automatisch“ betreute Werkstatt bedeuten muss.
       
       ## „Etwas sehr Neues“
       
       „Die bestehenden Standardmaßnahmen zur Arbeitsförderung sind nicht
       sonderlich kreativ“, bestätigt Carola Brunotte, Bereichsleiterin der
       Agentur für Arbeit, unumwunden. Die Maßnahmen seien „nicht schlecht, aber
       auch nicht für jeden das Richtige“. Deswegen habe sich die Agentur für
       Arbeit dafür entschieden, Kompetanz zu unterstützen – „obwohl das für uns
       etwas sehr Neues ist!“.
       
       Dass diese Premiere ausgerechnet in Bremen stattfindet, ist nicht
       erstaunlich. Mit dem seit Jahrzehnten inklusiv arbeitenden
       Blaumeier-Atelier, in dem auch Mindt und Buchholz aktiv waren, ist jede
       Menge gesellschaftlicher Humus entstanden, Offenheit und Begeisterung für
       inklusive Kunst auf allen Ebenen der Stadtgesellschaft. Mit Mini-Etats
       haben es die Kompetanzler geschafft, in Bremen mit „Eigen-ARTig“
       Deutschlands erstes integratives Tanzfestival auf die Beine zu stellen.
       
       Vor ein paar Jahren organisierten sie einen 24-stündigen
       Tanztheater-Marathon, bei dem sich Tag und Nacht Behinderte,
       Berührungsangst-Behinderte und alle übrigen auf offener Bühne begegnen
       konnten. Unbekannte, mit denen man spontan tanzt? „Die will ich gern kennen
       lern en!“, sagte Neele Buchholz damals. Mittlerweile ist es auch umgekehrt:
       Sehr viele wollen Kontakt mit der Tänzerin. Und den werden sie auch
       bekommen.
       
       27 Jul 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Henning Bleyl
       
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