# taz.de -- Joachim Bauer über den freien Willen: „Der Mensch ist die stärkste Droge“
       
       > Wie die Medizin die Selbstheilungskräfte von Kranken mobilisieren kann,
       > erklärt der Freiburger Hirnforscher und Bestsellerautor Joachim Bauer.
       
 (IMG) Bild: Selbst den Weg bestimmen und nicht von äußeren Reizen treiben lassen.
       
       taz: Herr Bauer, wir sitzen in einem Freiburger Café, und Sie haben
       Kräutertee und Brezel bestellt. Keine Kaffee- oder Zuckersucht – sind Sie
       ein völlig selbstgesteuerter Mensch? 
       
       Joachim Bauer: Nein, Selbststeuerung ist ja keine absolute Größe. Wir leben
       in einer Welt mit Reizen, Stimuli und Warenangeboten, der auch ich nicht
       entrinnen kann. Es geht um die Nutzung unserer Freiheitsräume, die wir
       durch Stopp von Reiz-Reaktions-Abläufen erweitern können. Eine Studie
       verglich zwei Probandengruppen: eine mit einem hedonischen Lebensstil, die
       alles sofort haben wollen, die andere mit einem eudaimonischen,
       reflektierenden Alltagsverhalten. Bei Hedonikern werden Gene aktiviert, die
       ein höheres Risiko für Entzündungen, Herzkrankheiten, Krebs und Demenz
       beinhalten. Bei Eudaimonikern mit hoher Selbststeuerung war es umgekehrt,
       sie waren viel gesünder.
       
       Was unterscheidet Selbststeuerung von Selbstdisziplin? 
       
       Disziplin und Selbstdisziplin wird in autoritären Staaten topdown ausgeübt.
       In Deutschland geschah das von etwa 1870 bis 1950 durch „schwarze
       Pädagogik“ und Prügelstrafen. In den westlichen Konsumgesellschaften von
       heute haben wir umgekehrt zu viel Bottom-up-Verführungen, auf das unser
       Basissystem der Triebe und Affekte reagiert. Wenn wir jedoch über ein gut
       entwickeltes Top-down-System im präfrontalen Cortex hinter der Stirn
       verfügen, steuert es das Triebsystem. Selbststeuerung meint also Fürsorge
       für beide Fundamentalsysteme, eine gute Balance zwischen ihnen. Und ein
       Gefühl dafür, was uns mittel- und langfristig gut tut, etwa Verbundenheit,
       gute Ernährung, sexuelle Erfüllung. Mein Buch ist ein Aufruf, bewusst
       auszuwählen, lustvoll à la carte zu leben. Das heißt aber auch zu warten,
       wenn die Küche mal kalt ist, und auf Junkfood zu verzichten.
       
       Wenn ich jetzt auf Kuchen verzichte, hat mein präfrontaler Cortex mein
       Reptiliengehirn niedergekämpft? 
       
       So ähnlich. Wir können reflektieren, entscheiden, Alternativen
       antizipieren. Das ist Teil der biologischen Bestimmung des Menschen, dass
       er den Perspektivwechsel beherrscht. Das kann er aber nur, wenn er immer
       wieder innehält. Der präfrontale Cortex entwickelt sich dann optimal, wenn
       Kinder gute Eltern haben und ein ganzes Dorf miterzieht.
       
       In der glitzerbunten Welt der Waren und Verführungen ist das schwer. 
       
       Ja. Wir werden überflutet von medialen Reizen, die auf schnelle Antworten
       zielen.
       
       Ich bin süchtig nach dem „Pling“ neuer Mails, obwohl mich die Mailflut
       nervt. Wenn ich „Pling“ höre, bin ich ständig versucht nachzuschauen, wer
       mir jetzt schreibt. 
       
       Das geht mir auch so. Darin besteht der Sex dieser Geräte, dass sie uns
       konditionieren, schnell auf sie zu reagieren. Medien sind Opium fürs Volk
       geworden. Aber es geht mir nicht um Askese und Abschalten. Wir müssen den
       Umgang mit sozialen Medien lernen. So sehr ich meinen Kollegen Manfred
       Spitzer schätze – ich halte nichts von seinem Appell, alle elektronischen
       Geräte auf den Müll zu schmeißen.
       
       Wie verhindert man Mediensucht bei Kindern? 
       
       Sie sollten das Betrachten und Staunen lernen können, die Natur beobachten
       oder Musik machen, Bücher lesen, statt in flackernde Bildschirme zu
       schauen. Auch Meditationstechniken und Achtsamkeitstrainings an Schulen
       sind gut. Und in den Kitas ein guter Betreuungsschlüssel. Kinder müssen
       gesehen, gespiegelt, angeleitet, ermutigt werden.
       
       Wie kann vor diesem Hintergrund eine ökosoziale Transformation gelingen? 
       
       Wir leben in einer in vieler Hinsicht süchtigen Gesellschaft, doch immer
       mehr Menschen empfinden „Überdruss am Überfluss“. Sie treten für
       Selbstbestimmung und Selbststeuerung ein, für Zeitwohlstand, Muße und eine
       „Ethik des Genug“, die sich etwa im „Degrowth“-Kongress gezeigt hat.
       
       Kann man Selbststeuerung wie einen Muskel trainieren? 
       
       Ja. Wir haben eine tiefe neurobiologische Verwurzelung zwischen Ich und Du.
       Ein Säugling kann nur dann ein Ich entwickeln, wenn es in einer
       Betreuungsperson ein empathisches Du findet. Wenn ein Kleinkind hinfällt,
       schaut es oft zuerst in das Gesicht der Mutter, um sich zu vergewissern,
       wie es das Geschehen beurteilen soll. Wir erleben uns immer ein Stück weit
       so, wie uns andere sehen, und umgekehrt. Diese Ich-Du-Netzwerke sitzen im
       basalen Part des präfrontalen Cortex, ihre Größe korreliert bei Erwachsenen
       mit der Größe ihres sozialen Netzwerks.
       
       Hat dieser Sozialmuskel auch Schwächen? 
       
       Wir sind soziale Tiere, was auch ein Verführungspotenzial beinhaltet. Wir
       kopieren, was andere tun, und werden schnell zum Mitläufer, wie unter
       Hitler. Aber über diese Koppelung können wir auch andere stärken, wenn sie
       geschwächt sind. Und wir können sagen: Ich mache da nicht mit! Vierjährige
       Kinder müssen deshalb durch die Trotzphase hindurch, sie müssen lernen,
       nein zu sagen.
       
       Manche Hirnforscher behaupten aber, es gebe keinen freien Willen. 
       
       1983 ließ der US-Hirnforscher Benjamin Libet Versuchspersonen entscheiden,
       wann sie eine Taste drücken würden, und fand in ihren Hirnstromkurven etwa
       0,8 Sekunden vorher einen Anstieg des sogenannten Bereitschaftspotenzials.
       Daraus zogen meine geschätzten Kollegen Gerhard Roth und Wolf Singer den
       falschen Schluss, der freie Wille existiere nicht. Mit weitreichenden
       Folgen: Menschen, denen man den freien Willen abspricht, verhalten sich
       tatsächlich verantwortungsloser. Im Buch beschreibe ich jedoch, dass das
       Bereitschaftspotenzial nichts zu tun hat mit einer den freien Willen
       unterlaufenden Vorentscheidung des Gehirns.
       
       Werden wir durch Selbststeuerung gesünder? 
       
       Ja. Diese Koppelung ist eine riesige Chance für Selbstheilung. Viele
       Patienten sind durch ihre Krankheit psychisch geschwächt und befinden sich
       im Kindmodus, schauen also zu Ärzten hinauf. Die können durch Zuwendung
       ihre Selbstkräfte stärken. Dann darf man aber nicht so dumme Sachen sagen
       wie: „Sie leben nur noch sechs Monate“, das wird zur sich selbst
       erfüllenden Prophezeiung. Umgekehrt gibt es ein enormes salutogenetisches
       Potenzial durch Placebo-Wirkungen, durch Wortwirkungen.
       
       Worte sind Placebos? 
       
       Der Satz „Das wird Ihnen helfen“ hat eine hohe gesundheitsfördernde
       Wirkung. Unter dem Titel „Wie Placebos das Hirn von Patienten verändern“
       hat der Turiner Neurologe Fabrizio Benedetti eine spektakuläre Studie mit
       Parkinson-Patienten veröffentlicht. Sie waren zuvor an einen Apparat
       angeschlossen worden, der durch Nervenreizung die Ausschüttung von Dopamin
       anregte, um ihre Symptome zu lindern. Wenn man ihnen sagte, dass der
       Apparat abgestellt sei, obwohl er weiterlief, dann verstärkten sich ihre
       Symptome wieder. Wenn man umgekehrt sagte, er laufe weiter, obwohl er
       abgestellt war, verbesserte sich ihr Zustand.
       
       Was heißt das für das Gesundheitssystem? 
       
       Der Mensch ist die stärkste Droge für andere Menschen – durch Wörter,
       Blicke, Körpersprache. Mediziner sollten immer den inneren Arzt des
       Patienten ansprechen, seine Selbstheilungskräfte. Paramedizinische Heiler
       machen auch nichts anderes. Schamanen versprechen Kranken: Ich kann einen
       Prozess organisieren, der dir hilft. Vertraue mir als mächtige Figur. Wir
       hier machen das nicht mit Straußenfedern, sondern mit weißem Kittel und
       goldenem Füller. Es gibt also keinen Grund, Schamanen zu verurteilen.
       Kranke sind bedürftig, sie sollten die beste psychologische Betreuung in
       Kombination mit guten Apparaten bekommen.
       
       18 Jul 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ute Scheub
       
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