# taz.de -- Die Wahrheit: Naschperlen für Wikinger
       
       > Norddeutsche können alles und noch viel mehr: frieren, lesen oder auch
       > obszöne Autowaschanlagen benutzen.
       
       Zum Sommeranfang vor zwei Wochen mussten wir den Holzofen befeuern.
       Norddeutschland ist nichts für Feiglinge. Wir sind Wikinger. Ich dachte,
       ich sehe aus wie ein Held, wenn ich mich abends mit zwei übergeworfenen
       Wolldecken an den Fernsehnachrichten wärme, statt die Zentralheizung
       anzuwerfen. Was zumindest beweist, dass in Norddeutschland außer Wikingern
       auch Idioten überleben können.
       
       Alles Südliche ist uns suspekt: Bayern, Griechenland, Hamburg-Harburg.
       Können von uns aus alle raus aus dem Euro oder wo immer sie sonst
       rauswollen. Warum nicht gleich aus der Zivilisation aussteigen? Die ist
       südlich von Haithabu ja sowieso nicht so verbreitet.
       
       Ich persönlich würde gern aus der Schrift aussteigen, Schrexit sozusagen.
       Als mein Sohn zur Schule kam, stellte er einmal nach einer langen
       Autobahnfahrt entnervt fest, dass man „nicht mehr nicht lesen kann, wenn
       man mal lesen kann“. Die Kolonne der beschrifteten Lastwagen – Logistic
       Star, Logistic Heaven, Logistic Universe – hatte ihn total erschöpft.
       
       Auch ich kann nicht nicht lesen. Deshalb weiß ich leider, dass die von mir
       bevorzugten Kleintomaten vom Verkäufer als „Naschperlen“ angepriesen
       werden. Überall wird nur noch per Herzchen und Smiley kommuniziert, aber
       ausgerechnet die Autowaschanlage, in die ich ab und zu fahre, ist eine
       würdige Bewahrerin der Schrift mit ausgeprägtem Mitteilungsbedürfnis:
       „Heißwachs einmassieren“, blinkt sie mich aufdringlich an, wenn sie mit
       meinem Auto irgendwas tut, was vermutlich obszön ist. Dabei will ich das
       gar nicht wissen.
       
       Aber das Auto selbst funktioniert schließlich auch so: „Safe-Verriegelung
       beachten! Bordbuch!“, funkelt es auf dem Display, und dann bin ich doch
       wieder ganz froh, dass es noch nicht sprechen kann und mich jedes Mal
       anbrüllt, wenn ich irgendeinen Schalter betätige. Aber das kommt bestimmt
       auch noch.
       
       Apropos obszön: Es gibt keine unbeschriftete Herrenfreizeitbekleidung mehr.
       Mit Stolz tragen die uncoolen Jungs seit einigen Jahren Typografie-Unfälle
       auf Brust und Rücken, wenn sie mal lässig sein wollen: „354 South Beach
       Camp Sun Fun Surf Captain Pearl Harbor“ steht in zehn verschiedenen
       Schriften durcheinander auf ihren Polohemden zu lesen. Vielleicht eine
       symbolische Rettung der Schriftkultur, während wir rundherum ihren
       Niedergang erleben? Vielleicht aber auch einfach bloß kranke Scheiße. Unter
       den Hemden sehen sie leider neuerdings genau so aus. Äh, hat man mir
       erzählt.
       
       Und in meinem Fitnessstudio prangen überall Plakate mit handgeschriebenen
       Weisheiten: „Achte auf deine Gedanken, denn sie sind der Anfang deiner
       Taten!“ Wer, bitteschön, möchte sich so was von einer bescheuerten
       Muckibude sagen lassen? Was mag der Hintergedanke sein – wecke den
       Fluchtinstinkt der Mitglieder, damit sie schneller werden?
       
       Im Umkleideraum las ich dort andererseits neulich auf dem rosa Minislip
       einer Sportlerin „Silly Fuck“. Da kann man tiefsinnig drüber werden. Ich
       habe zweimal hingesehen, aber es blieb dabei. Allerdings hatte ich keine
       Brille auf. Haben wir Wikinger nicht nötig.
       
       8 Jul 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Susanne Fischer
       
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