# taz.de -- Russischer Kosmopolit: Nationalkomponist aus Versehen
       
       > Das Schleswig-Holstein Musikfestival hat sich Pjotr Iljitsch Tschaikowsky
       > verschrieben. Die aufregenden Werke präsentiert es aber nicht.
       
 (IMG) Bild: Noch immer traut man Tschaikowsky wenig zu, sagt Experte Paul Mertens.
       
       HAMBURG taz | Tschaikowsky, der „Salonrusse“. Mehr glaubt man nicht sagen
       zu müssen über diesen russischen Komponisten – dabei hat ihm das
       diesjährige Schleswig-Holstein Musikfestival (SHMF) sogar einen eigenen
       Schwerpunkt gewidmet.
       
       Das passt gut zum Romantik-Faible des seit 2014 amtierenden Intendanten
       Christian Kuhnt, der im vorigen Jahr Felix Mendelssohn Bartholdy
       präsentierte. Die Länderschwerpunkte seines Vorgängers Rolf Beck hatte er
       nicht weiterführen wollen; ein neuer Chef muss schließlich eigene
       Duftmarken setzen.
       
       ## Unterschätzter Komponist
       
       Aber lohnt es sich, einen Komponisten ins Zentrum zu stellen, der zwar –
       und das ist der regionale Link fürs SHMF – sechsmal Hamburg besuchte, aber
       ansonsten so eingängig, vielleicht gar oberflächlich ist? Paul Mertens,
       Vorstand der Tübinger Tschaikowsky-Gesellschaft sagt: Ja.
       
       Denn Tschaikowsky sei zwar ein guter Melodiker mit Sinn für Pathos, das
       emotional unmittelbar packe, aber er werde auch leicht unterschätzt –
       weshalb ihn bis Anfang der 1990er-Jahre weder Musiker noch Wissenschaftler
       groß beforschten. Man habe es Tschaikowsky einfach nicht zugetraut, auch
       strukturell durchdacht zu komponieren. Dabei sei das selbstverständlich der
       Fall.
       
       Tatsächlich hat die Tschaikowsky-Forschung anfangs in Laien-Händen gelegen:
       in denen der Tänzerin und Pianistin Louisa von Westernhagen, die von 1952
       bis 1976 in ihrer Hamburger Privatwohnung ein „Tschaikowsky-Studio“ führte.
       Sie legte „ein sich dem Werk verpflichtendes Gelübde“ ab, lernte Russisch,
       übersetzte Briefe und organisierte Konzerte, um den Komponisten im Westen
       bekannter zu machen.
       
       Ihr Assistent war der Musikwissenschaftler Thomas Kohlhase, der später
       unter anderem an der Uni Tübingen lehrte. 1993 hatte er, zum 100.
       Tschaikowsky-Todestag, die Idee, eine neue kritische Gesamtausgabe
       herauszugeben, zusammen mit dem Mainzer Schott-Verlag.
       
       Um sie zu betreuen, gründeten im selben Jahr Musiker, Liebhaber und
       Forscher die Tschaikowsky-Gesellschaft. Der Moment für das Projekt war
       günstig: In Russland herrschte Perestrojka, die Archive öffneten sich, man
       konnte Kontakt auch zum Tschaikowsky-Museum im russischen Klin aufnehmen,
       um zusätzlich eine unzensierte Briefausgabe vorzubereiten.
       
       ## Skandal oder Suizid
       
       Da gab es einiges zu heben, denn die Tschaikowsky-Ausgaben der Sowjetunion
       hatten dessen Homosexualität verschwiegen. Daraus war unter anderem der
       Mythos entstanden, Tschaikowsky habe zeitlebens darunter gelitten, dass er
       seine Veranlagung nicht ausleben konnte. Er sei sogar von einem Fürsten zu
       einem Ehrengericht einbestellt und vor die Wahl „Skandal oder Suizid“
       gestellt worden, woraufhin er sich umgebracht habe. Tatsächlich starb
       Tschaikowsky an der Cholera. Doch die Selbstmord-Legende hielt sich lange.
       
       Die inzwischen zugänglichen Briefe zeigen, dass Tschaikowsky seine
       Homosexualität als Jugendlicher im restriktiven Russland unter Zar
       Alexander II. zwar nicht offen ausleben konnte – in der Tat heiratete er
       1877 eine seiner Studentinnen, „und ihm wird die Idee gefallen haben, sich
       so ein gesellschaftliches Deckmäntelchen zu verschaffen“, sagt Mertens –,
       trotzdem, so Mertens weiter, „wird er auch auf der Rechtsschule, die er
       besuchte, bevor er sich der Musik verschrieb, seine Homosexualität schon
       ausgelebt haben“.
       
       Auch der kürzlich auf Arte gezeigte Film „Akte T.“ spricht Tschaikowskys
       Homosexualität offen aus und zeichnet ihn als Menschen, der damit gut leben
       konnte.
       
       ## Russischer Kosmopolit
       
       Unter Putin wird das Thema allerdings wieder zum Problem: Homosexualität
       ist tabu, und man ist bemüht, Tschaikowsky als heterosexuell darzustellen.
       Denn als Nationalkomponisten möchte man ihn natürlich vereinnahmen – im
       Sinne einer großrussisch-zaristischen Tradition und in Abgrenzung zum
       Westen.
       
       „Dabei war Tschaikowsky genau das nicht“, sagt Mertens. „Er war Kosmopolit,
       ist mit Französisch und Deutsch, mit der Musik auch Italiens aufgewachsen
       und hat sie sehr selbstverständlich mit Elementen russischer Volkslieder
       verbunden.“
       
       Damit grenzte sich Tschaikowsky ab von der „Gruppe der Fünf“ um Mili
       Balakirew, Alexander Borodin, César Cui, Modest Mussorgski und Nikolai
       Rimski-Korsakow, die die nationalrussische Musik fördern wollten.
       Tschaikowsky schuf ein auch im Westen leicht konsumierbares Konglomerat –
       gilt dort aber paradoxerweise bis heute als Repräsentant der „russischen
       Seele“.
       
       ## Zwischen allen Stühlen
       
       Doch die Rezeption im Westen war gespalten. „Denn man suchte um 1900 – etwa
       auf der Weltausstellung in Paris – durchaus das Exotische“, sagt Mertens.
       Und da passte Tschaikowsky nicht hinein. Er saß also zwischen allen
       Stühlen, ging auch kompositorisch modernere Wege als sein Lehrer Anton
       Rubinstein. Der orientierte sich an der Frühromantik eines Mendelssohn oder
       Schumann und fand Tschaikowskys Musik technisch zu schwer und zu modern.
       
       Aber Tschaikowsky ließ sich nicht beirren, schickte sein 1. Klavierkonzert
       an einen Freund, der es erfolgreich in den USA aufführte. Die Basis für das
       seither stetig reproduzierte Tschaikowsky-Klischee war gelegt, aber es ist
       nur eine Facette. „Zwar werden vor allem die letzten drei Sinfonien, das 1.
       Klavier-, das Violinkonzert, die Ballette ‚Schwanensee‘, ‚Nussknacker‘,
       ‚Dornröschen‘ sowie die Oper ‚Eugen Onegin gespielt‘, sagt Mertens.
       
       Aber Tschaikowsky biete mehr. „Da sind zum Beispiel die drei
       Orchestersuiten und die ersten drei Sinfonien, die einen leiseren, viel
       klassizistischeren Tschaikowsky zeigen. Oder die Oper ,Die Jungfrau von
       Orleans‘, ein fast oratorisches Werk“, das man einmal konzertant aufführen
       könne.
       
       ## Viele Klischee-Stücke
       
       Das SHMF, das laut Kuhnt ausdrücklich Tschaikowsky-Werke präsentiert, „die
       es nur selten in die Konzertsäle schaffen“, hat keins dieser Stücke im
       Programm. In die Planungen einbezogen worden sei die
       Tschaikowsky-Gesellschaft nicht, sagt Mertens. „Wir sind irgendwann von uns
       aus auf das SHMF zugegangen, aber die Zusammenarbeit war nicht einfach“.
       SHMF-Intendant Kuhnt sagt, man habe auf „andere kompetente Quellen
       zurückgegriffen und das Programm zudem im Dialog mit unseren Künstlern
       entwickelt“.
       
       Da muss man, wenn man auf große Namen schielt, natürlich nehmen, was sie im
       Repertoire haben. Und so präsentiert das SHMF etliche der erwähnten
       Klischee-Stücke, viel Kammermusik und einige unbekanntere liturgische Werke
       wie die Chrysostomos-Liturgie von 1878. Damals wurde sie nicht im
       Gottesdienst aufgeführt, weil die russisch-orthodoxe Gottesdienstordnung
       keine Instrumente erlaubte.
       
       Beim SHMF singt sie der Moskauer Kathedralchor in Lüneburg, Itzehoe und
       Meldorf. Das ist erfreulich.Eigenartig aber sei, sagt Mertens, dass zum
       Eröffnungskonzert nicht Tschaikowsky gespielt werde. Sondern Mozart und
       Brahms.
       
       11 Jul 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Petra Schellen
       
       ## TAGS
       
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 (DIR) Wendland
       
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