# taz.de -- Kino aus Syrien: Hintersinn im Hühnerstall
       
       > Jähes Ende einer Moderne: In Wien sind Filme der syrischen Regisseure
       > Omar Amiralay, Mohammad Malas und Ossama Mohammed zu entdecken.
       
 (IMG) Bild: Still aus „Sundūq ad-Dunyā“ (Opfer), 2002, Regie Ossama Mohammed
       
       „Aufgrund der Unzugänglichkeit von Filmkopien in der aktuellen
       Kriegssituation zeigen wir einzelne Werke ausnahmsweise als
       Video-Faksimiles“ liest man auf der Website des Österreichischen
       Filmmuseums (ÖFM) zur Filmreihe „Eine syrische Moderne“. Der Hinweis ist
       einerseits Zeugnis der europaweit ziemlich einmaligen Ambition des Wiener
       Kinos, auch in Zeiten der längst vollendeten Digitalisierung dem analogen
       Vorführmaterial treu zu bleiben. Wo für andere Kinos schon die bloße
       Verfügbarkeit einer Blu-Ray Grund genug ist, dem „Video-Faksimile“ den
       Vorzug zu geben, stehen beim ÖFM die 35-mm-Projektoren erst still, wenn das
       Zelluloidmaterial wortwörtlich in Flammen aufzugehen droht.
       
       Andererseits macht der Satz deutlich, wie wichtig diese Filmreihe gerade
       jetzt ist: Mit jenem syrischen Kino, dem sich die Filmreihe in Wien noch
       bis Mitte Juni widmet, ist es, das kann sich jeder denken, der in den
       letzten Jahren auch nur ab und zu eine Nachrichtensendung zur Kenntnis
       genommen hat, erst einmal gründlich vorbei.
       
       Umso wichtiger zu zeigen, dass es einmal existiert hat, dass also dieser
       Tage zwischen Aleppo und Damaskus nicht nur die Überreste antiker
       Hochkulturen vernichtet zu werden drohen, sondern eben auch: eine syrische
       Moderne, eine künstlerische und intellektuelle Tradition, die, ganz
       unabhängig von ihrer faktischen sozialen Reichweite, die Möglichkeit einer
       anderen, freieren Gesellschaftsordnung denkt.
       
       Die Filmreihe des ÖFM rekonstruiert diese Moderne entlang der Filmografien
       dreier Regisseure: Omar Amiralay, Mohammad Malas und Ossama Mohammed haben
       ihre Filme teils in enger wechselseitiger Kollaboration produziert, alle
       drei kommen wieder und wieder auf dieselben Themen, oft sogar auf dieselben
       visuellen Motive zurück.
       
       ## Gute Absichten und das tägliche Leben
       
       In den Frühwerken, vor allem in denen des Dokumentaristen Amiralay
       (1944–2011), artikuliert sich noch eine kritische Solidarität mit dem
       staatssozialistischen Projekt der inzwischen seit über fünf Jahrzehnten in
       Syrien herrschenden Baath-Partei. Sein früher Langfilm „Alltag in einem
       syrischen Dorf“ (1974) untersucht die Auswirkungen einer Landreform, die
       sich das Ziel gesetzt hatte, mit den tribalistischen Strukturen, die das
       Leben der Menschen fest im Griff haben, zu brechen. Aber die guten
       Absichten sind das eine, die Details des tagtäglichen Lebens das andere.
       
       Gelegentlich kommen in seinem Film zwar Parteifunktionäre zu Wort, die ihre
       hehren Absichten ausbreiten dürfen, viel wichtiger ist es dem Regisseur
       jedoch, den Einwänden der Betroffenen Raum zu geben. Vor allem anderen ist
       Amiralay ein aufmerksamer, geduldiger, ganz und gar nicht paternalistischer
       Zuhörer, der das Kino als ein Medium der Volksaufklärung und der
       demokratischen Selbstermächtigung begreift.
       
       ## Die düsteren Töne
       
       Schon im drei Jahre später entstandenen „The Chickens“, einem Meisterwerk
       des dokumentarischen Hintersinns, nehmen die düsteren Töne überhand: Wenn
       da Kleinbauern über die Probleme des staatlichen Hühnerzuchtprogramms
       schimpfen, kann man schnell auf die Idee kommen, die Ställe, in denen sich
       das eingeengte und tyrannisierte Federvieh irgendwann gegenseitig an die
       Gurgel geht, als eine Allegorie auf die syrische Gesellschaft unter der
       Baath-Herrschaft zu nehmen.
       
       Auf andere Weise beengend ist Amiralays Erinnerungsfilm „Es gibt noch so
       viel zu sagen“ (1997), in dem der Dramatiker Sa’adallah Wannous seine
       Perspektive auf den Nahostkonflikt, den fast alle Filme des Programms
       tangieren, nachvollzieht. Ästhetisch ist das berückend: Amiralay montiert
       Archivmaterial in die Erzählung seines schwerkranken Freundes und
       Weggefährten und er überblendet die historischen Aufnahmen mit den Tropfen
       der Infusion, die den alten Mann am Leben erhalten.
       
       Gegen eine derart simple, kraftvolle Metapher dafür, wie Geschichte auf das
       Innerste von Menschen einwirkt, bleibt jedes nachinszenierte
       Erinnerungsbild ein stumpfes Klischee. In politischer Hinsicht ist „Es gibt
       noch so viel zu sagen“ freilich vor allem anderen ein Dokument
       antizionistischer Verbohrtheit: Zum Einstieg stellt Wannous klar, dass die
       Gründung Israels die Katastrophe seines Lebens gewesen sei. Anschließend
       lässt er mehrere Jahrzehnte voller verlorener Kriege und gelegentlicher
       diplomatischer Annäherungsversuche, die aus seiner Perspektive nichts als
       Verrat bedeuten können, Revue passieren.
       
       ## Abfinden mit dem Nachbarstaat
       
       Selbst die islamistischen Faschisten der Hamas und der Hisbollah, die einem
       Marxisten wie Amiralay eigentlich als Inbegriff des Rückschritts erscheinen
       müssten, werden in einer solchen Erzählung wenigstens implizit in eine
       imaginäre panarabische Front integriert. (Aber das kennt man schließlich
       auch von der europäischen Linken: Wenn’s gegen Israel geht, ist in
       Windeseile Schluss mit der Dialektik.) Am Ende kommt bei all dem nicht mehr
       herum als das seufzende Eingeständnis, dass es inzwischen vielleicht doch
       sinnvoll wäre, sich mit der faktischen Existenz des Nachbarstaats
       abzufinden.
       
       Falls Syrien noch einmal eine Gelegenheit für eine zweite kinematografische
       Moderne erhalten sollte, kann man sich nur wünschen, dass sie diese
       Erkenntnis nicht mehr länger als zähneknirschenden Endpunkt, sondern als
       selbstverständlichen Ausgangspunkt nimmt.
       
       ## Dezidiert anitheroisch
       
       Wobei die meisten Filme des Programms ohnehin eine dezidiert antiheroische
       Perspektive einnehmen: Vor allem die fiktionalen Arbeiten des 1945
       geborenen Malas und des 1954 geborenen Mohammed kümmern sich nicht um die
       Kämpfer für Religion und Vaterland, sondern blicken auf das Schicksal
       derer, die während der Schlachtengänge zu Hause ausharren müssen.
       
       In Malas’ komplex gebautem, mehrere Jahrzehnte Erzählzeit umfassenden
       Spielfilm „Die Nacht“ werden die Männer regelmäßig von Ideologen
       wechselnder Couleur an die Fronten wechselnder Kriege gekarrt – und kehren,
       wenn überhaupt, nur als an Leib und Seele gezeichnete Schatten ihrer selbst
       zurück; die Frauen und Kinder müssen sich derweil in den Ruinen eine
       eigene, auf immer provisorische Existenz aufbauen.
       
       Ähnliche Konstellationen dominieren das schmale, eigensinnige, begeisternde
       Werk Ossama Mohammeds. Wenn Amiralay und Malas der Didakt und der
       Melancholiker der syrischen Moderne sind, dann ist Mohammed ihr Hysteriker.
       
       ## Poetische Extravaganz
       
       Seine beiden bisherigen Hauptwerke „Sterne des Tages“ (1988) und „Opfer“
       (2002) sind formal entfesselte autorenfilmerische Großentwürfe, in denen
       sich jede einzelne Einstellung gegen die Konventionen filmischen Erzählens
       sträubt – doch Mohammeds poetische Extravaganz zielt nicht auf schwermütige
       Metaphysik, sondern auf die schillernden Widersprüche des Diesseitigen.
       Schon „Sterne des Tages“ lässt ein bedrückendes Familiendrama – ein
       Nachwuchspatriarch versucht seine widerspenstige Schwester an immer neue,
       immer widerwärtigere Cousins zu verheiraten – bei jeder Gelegenheit in
       Screwball-Wahnwitz umkippen.
       
       „Opfer“ geht noch einen Schritt weiter: Die sozialrealistischen Rahmungen
       des Vorgängers fallen weg, auch der narrative Zusammenhang löst sich
       weitgehend auf zugunsten einer assoziativ losen Szenenfolge: Es geht um
       drei namenlose Jungen, die in einer Welt ohne Väter, aber voller
       quicklebendiger, sinnlicher Mütter aufwachsen. Eine dieser Frauen
       beschnuppert ihren Sohn derart wild, dass man nicht weiß, ob sie ihn küssen
       oder auffressen will.
       
       Wenn einer der Jungs sich schließlich verliebt (und zwar mit einer Wucht,
       die ihresgleichen sucht – die erste Begegnung mit der Angebeteten ist
       inszeniert wie der Kontakt mit einer Außerirdischen), gibt das Anlass für
       einen der schönsten Spezialeffekte der Filmgeschichte: Wenn die rothaarige
       Fairouza ihren Kopf an seine nackte Schulter legt, springen ihre
       Sommersprossen auf seine Haut über.
       
       4 Jun 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Lukas Foerster
       
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 (DIR) Schwerpunkt Syrien
 (DIR) Schwerpunkt Berlinale
       
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