# taz.de -- Türkei: Die Sorgenfalten des Tayyip Erdogan
       
       > Viele sehen in den türkischen Wahlen eine Richtungsentscheidung zwischen
       > Islamisten und säularen Kräften. Doch der Urnengang könnte auch mit einem
       > Patt enden.
       
 (IMG) Bild: Premier Erdogan kann sich seines Sieges nicht sicher sein
       
       ISTANBUL taz Je näher der Wahltag am kommenden Sonntag rückt, umso tiefer
       werden die Ringe unter den Augen von Ministerpräsident Recep Tayyip
       Erdogan. Jeden Tag bis zu drei große Auftritte zehren an den Kräften, hinzu
       kommt eine große Ungewissheit, was die Wahl bringen wird. Obwohl sich seine
       Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) sehr optimistisch gibt,
       erklärte Erdogan vor wenigen Tagen überraschend, er werde sich aus der
       Politik zurückziehen, falls seine Partei die absolute Mehrheit der Mandate
       im neuen Parlament verpassen sollte. "Der ist sich seines Sieges offenbar
       doch nicht so sicher", kommentiert der Zeitungshändler an der Ecke,
       offenbar ein AKP-Gegner, "sonst würde er doch nicht zu solchen Mitteln
       greifen, um noch den letzten Anhänger zu mobilisieren."
       
       Tatsächlich schwanken die Umfrageergebnisse auch unmittelbar vor der Wahl
       immer noch erheblich. Je nach Institut werden für die AKP zwischen 30 und
       42 Prozent gezählt. Entscheidender aber ist, wie viele Parteien im
       Parlament vertreten sein werden. Dass die AKP im letzten Parlament fast
       zwei Drittel der Sitze hatte, obwohl sie nur 34 Prozent der Wählerstimmen
       gewinnen konnte, lag ja daran, dass außer der AKP und der
       linksnationalistischen, kemalistischen CHP sämtliche Parteien an der
       Zehnprozenthürde gescheitert waren. Somit war fast die Hälfte der Stimmen
       nicht im Parlament vertreten, stattdessen wurden die Mandate auf AKP und
       CHP verteilt. Damit ist jedoch jetzt nicht zu rechnen. Nach allen
       Umfrageergebnissen wird wohl zumindest die rechtsradikale MHP noch den
       Sprung ins Parlament schaffen. Auch bis zu 35 Unabhängigen wird dies
       zugetraut, da für sie nicht die landesweite Zehnprozenthürde gilt.
       
       Alle auf den Beinen 
       
       Erdogan und seine aus dem politischen Islam kommende AKP kämpfen in diesen
       Tagen jedoch nicht nur um eine Erneuerung ihres Regierungsauftrags, sondern
       ein wenig auch um die Zukunft ihrer Partei selbst.
       
       Als Erdogan im Frühjahr gegen den erbitterten Widerstand der Opposition,
       des Militärs und der Justiz in Form des Verfassungsgerichts versuchte,
       seinen Stellvertreter, den Außenminister Abdullah Gül zum Staatspräsidenten
       wählen zu lassen, geriet die Türkei in eine politische Krise. Die
       vorzeitigen Neuwahlen sollen eine Lösung bringen.
       
       Doch das Land ist tief gespalten. Der Drohung der Militärs, die Ende April
       anlässlich der Präsidentenwahl auf ihrer Website angekündigt hatten, eine
       weitere Islamisierung der Türkei nicht tatenlos hinzunehmen, will die AKP
       einen möglichst überwältigenden Wahlsieg entgegensetzen. Die Opposition
       mobilisiert ihre Anhänger inzwischen mit dem Argument, dass es um nicht
       weniger gehe als darum, die laizistische Republik zu verteidigen.
       
       Entsprechend gereizt ist die Stimmung. Das Land ist in zwei Lager
       gespalten, und alle sind auf den Beinen. Nach den Großdemonstrationen der
       Laizisten im Frühjahr hat die AKP am vergangenen Sonntag mehrere
       hunderttausend Anhänger in Istanbul versammelt. Dort präsentierte sie ihre
       neuen Kandidaten, unter denen auch mehrere Frauen sind. Erdogan hat bei der
       Aufstellung der Kandidatenliste dieses Mal darauf geachtet, nicht allzu
       viele Leute aus der alten, streng islamistischen Milli-Görüs-Bewegung zu
       nominieren. Stattdessen finden sich auf den Listen der AKP
       Wirtschaftsliberale, ein paar Aleviten und sogar einige ehemalige
       Sozialdemokraten.
       
       Fast eine Volksfront 
       
       Der bekannteste Wirtschaftsliberale ist Mehmet Simsek, ein führender
       Investmentbanker von Merril Lynch, den Erdogan aus New York holte und der
       nun in der aufstrebenden Geschäftsstadt Gaziantep im Südosten der Türkei
       mit Basarhändlern über die Tücken der Mikroökonomie diskutieren muss. Es
       sei durchaus lehrreich für ihn, die ökonomischen Probleme mal an der Basis
       kennen zu lernen, verriet er im Interview.
       
       Das Auffälligste auf der Liste der AKP sind aber die weiblichen Kandidaten,
       vorzugsweise Akademikerinnen, ausnahmslos ohne Kopftuch. Selbst eine linke
       Anwältin ist dabei. Doch die Parteibasis kann mit solchen Leuten wenig
       anfangen. Zwischen dem Publikum bei der Großveranstaltung am letzten
       Sonntag und den Kandidatinnen auf der Bühne lagen Welten. Als sie sich
       vorstellten, rührte sich kaum eine Hand zur Beifallsbekundung.
       
       Außer den beiden Blöcken, islamische AKP auf der einen Seite, linke und
       rechte Nationalisten auf der anderen Seite, gibt es Wähler, die sich in
       dieser Konfrontation nicht wiederfinden und sich von keiner der beiden
       Seiten repräsentiert fühlen. Das sind insbesondere viele Kurden, die bei
       diesen Wahlen mit unabhängigen Kandidaten antreten und Chancen haben, bis
       zu 25 Mandate zu gewinnen.
       
       Auch für die gebildeten, einen westlichen Lebensstil pflegende Liberalen
       und Linken, die die AKP zwar aus gesellschaftspolitischen Gründen ablehnen,
       aber auch die rückwärtsgewandte laizistische, kemalistische Opposition
       nicht als kleineres Übel erachten, gibt es Alternativen. Die
       aussichtsreichsten unter ihnen sind die beiden unabhängigen Kandidaten, die
       in Istanbul antreten. Sollten ihnen der Einzug ins Parlament gelingen,
       könnten sie so etwas wie die Vorhut einer neuen politischen Bewegung
       bilden. Dafür brauchen sie nur ein paar Prozentpunkte.
       
       Angesichts der enormen Mobilisierung wird trotz des Wahltermins mitten in
       den Sommerferien mit einer sehr hohen Wahlbeteiligung gerechnet. Die
       Hotelbesitzer klagen über freie Betten und leere Strände. Viele haben ihren
       Urlaub verschoben, jeder will seine Stimme für die Zukunft des Landes
       abgeben. Doch die Wahrscheinlichkeit, dass die Wahl im Patt endet, ist
       groß. Ist das neue Parlament wieder nicht in der Lage, binnen vier Wochen
       einen neuen Staatspräsidenten zu wählen, wird es voraussichtlich Ende
       September wieder aufgelöst. Hinzu kommt, dass die Putschdrohung des
       Militärs keineswegs gebannt ist. Kein Wunder, dass Erdogans Sorgenfalten
       immer tiefer werden. Die Turbulenzen werden nach dieser Wahl sicher nicht
       beendet sein.
       
       21 Jul 2007
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jürgen Gottschlich
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Türkei
       
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