# taz.de -- 100. Geburtstag Simone de Beauvoirs: Feine Beobachterin der Frauen
       
       > Mit ihrem Werk "Das andere Geschlecht" wurde Simone de Beauvoir
       > weltberühmt. Am Mittwoch jährt sich der Geburtstag der französischen
       > Philosophin zum 100. Mal - eine Hommage.
       
 (IMG) Bild: Bechern mit Sartre: Simone de Beauvoir, 1977.
       
       Simone de Beauvoir hat viele, sehr lesenswerte Romane geschrieben. Ihr
       überdauernder Ruhm aber verdankt sich ihrer Summa, dem Werk "Das andere
       Geschlecht". Es erschien 1949 und machte die 41-Jährige über Nacht berühmt.
       Seine Kühnheit, seine Unerschrockenheit, der Witz, mit dem sie sich über
       das Männlichkeitsgehabe ihrer Zeitgenossen amüsiert, ist auch einer
       Nachkriegszeit geschuldet, über die sich die Restauration der
       Fünfzigerjahre noch nicht wie Mehltau gelegt hatte.
       
       Diese Souveränität verdankt Beauvoir aber nicht nur dem Zeitgeist; sie
       wusste, dass sie dazugehörte. Schließlich war sie nicht nur eine Tochter
       aus gutem Hause, wie auch ihre Autobiografie betitelt ist, sondern Spitze
       der französischen Leistungselite: Beim mythischen Philosophie-Concours der
       École Normale belegte sie (nach Sartre) den zweiten Platz.
       
       Ich las "Das andere Geschlecht" 1976, mit sechzehn Jahren, und klappte die
       711 Seiten der deutschen Übersetzung mit der felsenfesten Entscheidung zu,
       finanziell auf eigenen Füßen zu stehen und, komme, was wolle, einen Beruf
       zu finden, der mich erfüllt und unabhängig macht. Die Fesseln der Liebe, so
       schien es mir damals, wären dann leichter zu tragen, die Katastrophen des
       Eros nicht ganz zerstörend, den Männern wäre man nicht auf Gedeih und
       Verderb ausgeliefert.
       
       "Das andere Geschlecht", im reinsten Geist einer fortschrittsorientierten
       Aufklärung geschrieben, versucht, das weibliche Geschlecht aus seiner, mit
       Kant zu reden, selbst (jedenfalls mit-) verschuldeten Unmündigkeit zu
       befreien. Es kann nicht schaden, den kulturalistischen Beauvoirschen
       Lehrsatz, man werde nicht als Frau geboren, sondern dazu gemacht, heute, da
       die Erhaltung und Verbesserung der Rasse noch als Grund für einen
       Seitensprung mit einem besonders tetesteronstrotzenden Mann während der
       fruchtbaren Tage herhalten muss, in Erinnerung zu rufen.
       
       "Das andere Geschlecht" ist das, was die Postmoderne später einen grand
       récit - eine große Erzählung - nennen würde. Es fängt, wie alle grands
       récits, mit Adam und Eva an und führt in eine strahlende Utopie. Im
       Übergang vom Mutter- zum Vaterrecht wird der Mann Subjekt, das sich nicht
       in der Wiederholung der Erhaltung des Lebens erschöpft, sondern das Leben
       begründet, indem er es auf eine andere Zukunft hin überschreitet. Dieser
       Schritt, der dem Leben die Berechtigung zum Leben vorzieht, wird
       offensichtlich in Jagd und Krieg: In der Daransetzung des Lebens wird der
       Geist gegen das Leben bejaht.
       
       "Der schlimmste Fluch, der auf den Frauen lastet, ist, dass sie von den
       kriegerischen Unternehmungen ausgeschlossen sind. Nicht indem er sein Leben
       hergibt, sondern indem er es wagt, erhebt der Mensch sich über das Tier.
       Deshalb genießt innerhalb der Menschheit das höchste Ansehen nicht das
       Geschlecht, das gebiert, sondern das Geschlecht, das tötet." Um die
       Emanzipation der Frau, das Heraustreten aus der Immanenz, wie das im
       damaligen existenzialistischen Jargon hieß, müsse es folglich gehen; die
       Frau soll endlich Subjekt werden, wie der Mann es schon geworden ist. Das
       wird man, so glaubte Beauvoir, durch Arbeit. Aber nicht durch irgendeine
       Arbeit, sondern durch Arbeit, die über die bloße Reproduktion des Lebens
       hinausgeht. Die schlimmste Fessel auf diesem Weg sei für die Frau die Ehe -
       das Ausgehaltenwerden durch einen Mann, der Verzicht auf Arbeit, auf
       Selbstständigkeit und somit auf Selbstbestimmung. Die modernen Frauen sah
       Beauvoir zersplittert zwischen der Konzentration auf den Beruf und der
       Möglichkeit zur Heirat, die einen aller weiteren Anstrengungen enthebt und
       für den gesellschaftlichen Aufstieg sorgen könnte.
       
       Die andere Fessel, die die Frau daran hindere, so wie der Mann Subjekt zu
       werden, sei die Mutterschaft, durch "die die Frau an ihren Körper gebunden
       bleibt wie ein Tier", das Subjekt der Art untergeordnet wird. Besonders
       verheerend sei das Kinderkriegen in vaterrechtlichen, und das heißt in
       allen modernen Gesellschaften, in denen die Mutter zur Amme und Erzieherin,
       die Kinder aber zum Eigentum des Vaters werden. Historisch sieht Beauvoir
       das bürgerliche 19. Jahrhundert und den Code Napoléon als reinsten Ausdruck
       einer solchen vaterrechtlichen Gesellschaft, die bis in ihre Gegenwart
       bestimmend geblieben sei.
       
       Die erotische Liebe - und das hat Beauvoir nicht nur gefordert, sondern
       gelebt - solle frei werden, sie soll nicht an wirtschaftliche Formen
       gekoppelt sein. Sie soll auch nicht Sinn und Zweck des Lebens, sondern wie
       beim Mann Teil eines Lebens sein, das im Wesentlichen der Arbeit gewidmet
       ist. Mehr noch als der Mann verbaue sich die Frau von heute, meint
       Beauvoir, den Weg zu einer "bejahten Existenz" selbst: aus Bequemlichkeit,
       aus Angst vor der Herausforderung, weil sie sich in der Rolle des Anderen
       gefalle, weil sie Angst habe, dann nicht mehr Frau zu sein.
       
       Und wie soll die Zukunft aussehen, wenn die Frau zur selbstbestimmten
       Existenz gefunden hat? Der Unterschied zwischen Männern und Frauen würde
       nicht aufgehoben werden, die Liebe nicht aussterben - beruhigt uns Beauvoir
       - aber die "Versklavung" der einen Hälfte des menschlichen Geschlechtes
       wird aufhören, damit beide "rückhaltlos geschwisterlich" im Reich der
       Freiheit zueinander finden könnten, in dem Liebe den "Charakter einer
       freien Überschreitung und nicht mehr einer Selbstaufgabe bekäme".
       
       Phantasma Freiheit 
       
       "Das andere Geschlecht" hat Momente, die heute noch genauso aktuell wie
       früher sind, und andere, die überholt wirken. Wir sind im Ganzen
       skeptischer geworden und haben die Gespaltenheit des Subjektes und seine
       grundsätzliche Unverfügbarkeit akzeptiert; die Schwangerschaft ist etwa von
       der französischen Philosophin Kristeva nicht als das Tierhafte schlechthin,
       sondern als Symbol für diesen grundsätzlich entfremdeten, an einen anderen
       entäußerten Zustand des Subjektes gelesen worden. Der Optimismus des
       Existenzialismus, der Glaube an die Selbstbestimmtheit des Subjektes und
       irgendwelche Reiche der Freiheit erscheinen heute als Phantasma.
       Authentizität suchen wir nicht mehr im Verhältnis der Geschlechter, sondern
       erfreuen uns höchstens geschwisterlich an der Komödie, die das eine dem
       anderen Geschlecht vorspielt. Der Glaube an den Mann als Menschen,
       Bewunderung für das Männlich/Menschliche ist uns fremd geworden; den Homo
       Faber finden wir in seiner Selbstermächtigung manchmal rührend, manchmal
       aufgeblasen und ein bisschen lächerlich. Das Trauma, das Menstruation und
       Geschlechtlichkeit für die Frauen früherer Generationen bedeutet haben
       müssen, können wir, so glaube ich, nicht mehr nachvollziehen. Beauvoirs
       Schilderungen von Hochzeitsnächten wirken wie aus einer anderen Zeit. Kurz,
       die sexuelle Emanzipation ist entschieden schneller fortgeschritten als die
       ökonomische.
       
       Am besten ist Beauvoir da, wo sie den Existenzialismus aus den Augen
       verliert. Und das Erstaunlichste und mit dem existenzialistischen Tenor so
       gar nicht zu Vereinbarende ist die Wahl der einzigen Frau, die es in
       Beauvoirs Augen geschafft hat, die Norm tranzendierender Subjektivität wie
       ein Mann zu erfüllen: Theresa von Avila. "Eigentlich hat nur die heilige
       Theresa auf eigene Kosten in einer völligen Verlassenheit die menschliche
       Seinsbedingung durchlebt." Wenn aber das sich überschreitende Subjekt aus
       der mystischen Gottesliebe modelliert wird, kann man schwerlich von
       aufgeklärter Selbstbehauptung, muss man hingegen eher von völliger
       Selbstaufgabe reden. Die Liebe als Entäußerung an einen anderen ist dann
       auch nicht Teilbereich, sondern das Leben selbst. Mit dem Beispiel Theresa
       von Avila hat Beauvoir schon früh den existenzialistischen Begriff des
       Subjekts dekonstruiert.
       
       Beauvoir bleibt, oft gegen den Strich ihrer Philosophie gelesen, eine große
       Analytikerin der Leidenschaft. Und eine unbestechliche Beobachterin von
       Frauen, den Ängsten, durch Erfolg weniger Frau zu sein, während der Erfolg
       des Mannes seine Männlichkeit nur bestätige; den Heucheleien, wenn Frauen
       in der Ehe ausgehalten werden, und den daraus resultierenden oft kindischen
       Kompensations- und Legitimationsversuchen; der Zerrissenheit zwischen Beruf
       und Weiblichkeit. Gerade weil junge Frauen sich heute oftmals
       gleichberechtigt fühlen - man fragt sich, woher viele diesen Optimismus
       nehmen -, muss man über "Das andere Geschlecht" sagen, was Diderot über
       Richardsons Bestseller "Clarissa" gesagt hat: Lesen Sie Beauvoir, lesen Sie
       sie ohne Unterlass.
       
       9 Jan 2008
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Barbara Vinken
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Jean-Paul Sartre
 (DIR) Feminismus
       
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 (DIR) Simone de Beauvoir und Feminismus: Fürsorge als Teil eines guten Lebens
       
       Vor etwa 70 Jahren erschien „Das andere Geschlecht“ der Philosophin Simone
       de Beauvoir – mit weitreichenden Folgen. Heute ist ein Weiterdenken nötig.
       
 (DIR) Klassiker des Feminismus: Simone, wo bist du?
       
       „Das andere Geschlecht“ von Simone de Beauvoir gilt als Klassiker des
       Feminismus. Heute wird immer nur ein Satz zitiert – und das auch noch
       falsch.
       
 (DIR) Simone de Beauvoir-Doku: Die Unantastbare
       
       Die Doku "Eine moderne Frau 1908-1986"(Do: 22.35 Uhr, Arte) wird Simone de
       Beauvoir nicht gerecht. Sie ist zu unkritisch und brav.