# taz.de -- Kleinkredite an Indiens Frauen: Milchkuh oder Mitgift?
       
       > Mikrokredite erlauben indischen Frauen, ein Geschäft aufzubauen. Aber sie
       > stürzen auch viele in die Verschuldung und stützen patriarchale Bräuche.
       
 (IMG) Bild: Auch Bundeskanzlerin Merkel zeigt sich interessiert an den Nabard-Finanzhilfen für Kleinunternehmerinnen. Als Kreditbezieherin käme sie aber kaum in Frage.
       
       TAMIL NADU taz "Früher hätten die Banken uns niemals Geld geliehen, heute
       laufen sie uns hinterher." Die Frauen im südindischen Bundesstaat Tamil
       Nadu lächeln über die Flut von Kleinkrediten, die seit einem Jahrzehnt
       durch die Dörfer schwappt. Noch mehr aber über die Angestellten der
       staatseigenen Entwicklungsbank Nabard, die mit schwarz polierten Schuhen
       ins staubige Dorf kommen, um die Kundinnen zu beraten. "Disziplinierte
       Schuldnerinnen" nennen die Herren mit den weißen Kragen die Frauen.
       
       "Mahalir Thittam", Frauen-Empowerment, heißt in Tamil Nadu die Aktion, die
       eine Geschäftsbeziehung zwischen der Regierung des Bundesstaats, Banken,
       Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und den armen Frauen in den Dörfern
       aufbaut. Basis des Pakts ist ein kleiner Kredit. Er soll den Frauen helfen,
       sich aus Armut und Machtlosigkeit zu befreien. Der Kleinkredit ist in
       Indien zum Synonym für Selbsthilfe geworden und zum Herzstück der
       "Feminisierung von Entwicklungsprojekten", wie es im Fachjargon heißt:
       Frauen sind die Hauptakteurinnen der Armutsbekämpfung.
       
       Die Regierung gibt den NGOs ein Budget und exakte Vorgaben: Zum Beispiel
       müssen sie hundert Selbsthilfegruppen in 50 Dörfern in sechs Wochen
       gründen. Kann eine Frau - gleich welcher Kaste, Religion oder welchen
       Alters - monatlich 50 Rupien, das ist etwa 1 Euro, sparen, hat sie Anspruch
       auf einen Kleinkredit. Zusätzlich muss sie ein Training absolvieren, damit
       sie lernt, mit unternehmerischem Spürsinn Einkünfte zu erwirtschaften.
       
       400.000 Selbsthilfegruppen wurden in den vergangenen Jahren gegründet. Jede
       besteht aus zwanzig Frauen. Für die Rückzahlung steht die ganze Gruppe
       gerade - wie bei der Grameen Bank in Bangladesch, für die Mohammed Yunus
       2006 den Friedensnobelpreis bekam.
       
       Zusätzlich zu dem kleinen Kredit bekommen die Frauen eine große
       Verantwortung. Bei jedem Treffen zelebrieren sie ein paramilitärisch
       anmutendes Ritual: In Einheitssaris gekleidet, die rechte Hand
       ausgestreckt, sprechen die Frauen einen Katechismus nach, den ihre in einem
       Führungstraining geschulte "Präsidentin" herunterbetet: "Wir geloben, jeden
       Monat zu sparen, den Kredit pünktlich zurückzuzahlen, das Training
       regelmäßig zu besuchen, ein Geschäft anzufangen, unsere Kinder in die
       Schule zu schicken, den Alkoholismus im Dorf zu stoppen, das Mitgiftsystem
       zu unterbinden, nur ein Kind zu bekommen, das Dorf sauber zu halten."
       
       Die Frauen verzagen nicht angesichts der Aufgabenfülle, die ihnen zugemutet
       wird - zusätzlich zu der Feldarbeit, dem Haushalt, der Kinderbetreuung und
       der Tagelöhnerei auf den Feldern reicher Bauern. Für sie zählt die
       Anerkennung, die der Kredit bringt. Früher durften sie sich nicht in einen
       Kreis mit den Männern setzen. Früher hätten sie nicht allein mit dem Bus in
       die Bezirkshauptstadt fahren können. Heute sagen sie nicht nur den Männern
       ihre Meinung, sondern gehen ohne sie zu den Behörden. Den Kredit nehmen sie
       in Anspruch, weil er eine Teilhabe an der Moderne verspricht. Schließlich
       fließt so viel Geld wie noch nie zuvor ins Dorf, und zwar in Frauenhände,
       zumindest zunächst einmal.
       
       Die NGOs führen ordentlich Buch. Nach ein paar Monaten müssen sie die
       Gruppen bewerten. Zahlt eine Gruppe fristgemäß zurück, gilt sie als
       erfolgreich, und die nächste Kreditstaffel wird angeboten. Oft konkurrieren
       im selben Dorf verschiedene NGOs und Kreditprogramme um die Frauen, und
       diese sind meist Mitglied in mehreren Kreditgruppen.
       
       Umgerechnet eine halbe Milliarde Euro sind im "Mahalir Thittam"-Programm
       als Kleinkredite an die Dorffrauen geflossen und mit stattlichen Zinsen von
       20 Prozent zurückgezahlt worden. Die Banken machen satte Gewinne, die
       Regierung ist durch die Eigeninitiativen der Frauen entlastet.
       
       Tatsächlich verbirgt sich hinter der Erfolgsstatistik ein kompliziertes
       Geflecht von Zielen und Interessen. Viele Familien begleichen mit dem Geld
       ihre Schulden beim Geldverleiher, der 50 Prozent Zinsen verlangt. Oft wird
       der Kredit für Medikamente genutzt, für Familienfeiern oder Anschaffungen.
       Wie aber können sie dann zurückzahlen? "Ganz einfach", sagen die Frauen:
       Mit dem Kredit der Gruppe B tilgen sie den Kredit der Gruppe A. Noch besser
       ist die Lage, wenn sie Mitglied in drei Gruppen mit unterschiedlichen
       Kreditlaufzeiten sind.
       
       Merklich leiser erzählen einige, dass sie ihren Schmuck verkauft haben, um
       das Gesicht wahren und den Kredit zurückzahlen zu können. Andere leihen
       sich kurzfristig Geld "bei Nachbarn", also dem örtlichen Wucherer. Der
       Kredit befördert sie in eine neue Verschuldungsspirale, die schwer zu
       stoppen ist. Die Ärmsten im Dorf, die Dalit, die offiziell die
       Hauptzielgruppe von Mahalir Thittam sind, können ohnehin nicht viel sparen
       und fallen schnell wieder aus den Gruppen heraus.
       
       Tatsächlich schaffen es einige, aus dem Kredit ein gutes Geschäft zu
       machen, wie die Frauen in Virudhunagar. Sie sammelten schon immer
       Heilkräuter und kauften mithilfe mehrerer Kreditstaffeln Pressen und
       Zentrifugen, um Salben und Tinkturen nach traditionellen Rezepturen
       herzustellen, die sich in den Dörfern gut verkaufen lassen.
       
       Dagegen wirken die Frauen in Endapatti wie in einer Tretmühle gefangen: Sie
       verleihen Handys, reparieren Fahrräder und behandeln nach Absolvierung
       eines medizinischen Schnellkurses Kühe. Verdient haben sie bisher kaum
       etwas. Doch dank der vielen Geldkreisläufe können sie den Kredit
       zurückzahlen. Jetzt wollen sie Kälber kaufen und mit Milch handeln.
       
       Und die Männer? Wie gehen sie damit um, dass ihnen keine Kredite angeboten
       werden und sie als unzuverlässig gelten? "Wenn wir mit dem Kredit nach
       Hause kommen, gelten wir als gute Frauen", spotten die Frauen in
       Pudukottai. Natürlich haben oftmals noch immer die Männer das Sagen, was
       mit dem Geld passiert. Und einige werden mit der neuen Macht ihrer Frauen
       nicht fertig und schlagen zu.
       
       "Der Kredit ist für so vieles nützlich, für Business und für Hochzeiten",
       begeistern sich die Frauen. Sangathna verrät, dass sich hinter der Formel
       "Hochzeit" vor allem die Mitgift, von Fernseher bis Moped, verbirgt, die an
       die Familie des Bräutigams gezahlt werden muss. Je mehr Geld zirkuliert, je
       konsumorientierter die Dörfler werden, desto höher steigen die
       Mitgiftforderungen.
       
       Ragini ist glücklich, dass sie dank des Kredits ein aufwendiges Fest
       anlässlich der ersten Menstruation ihrer Tochter ausrichten konnte. Damit
       feiert die Familie die Heiratsfähigkeit ihrer Tochter und signalisiert,
       dass sie das Mädchen und seine Sexualität unter Kontrolle hat.
       
       Beim nächsten Gruppentreffen stehen Ragini, Sangathna und alle anderen
       wieder stramm. Mit einem Achselzucken kommentieren sie, dass sie mit dem
       Kredit, der Frauen stärken soll, ein patriarchales System unterstützen, das
       Frauen der Autorität der Familie unterwirft. Josephine, seit vielen Jahren
       in Frauenprojekten in Tamil Nadu tätig, bestätigt dieses Paradox: "Dass wir
       uns artikulieren können und Zugang zu Finanzmitteln haben - das sind große
       Fortschritte für die Frauen. Aber sie haben nichts daran geändert, dass in
       Tamil Nadu Mädchenmord, Gewalt gegen Frauen und Mitgiftzahlungen weit
       verbreitet sind."
       
       6 Mar 2008
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Christa Wichterich
       
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