# taz.de -- Pro und Contra zum Inzestverbot: Diskriminierung oder Normerhalt?
       
       > Eines der letzten großen Tabus: Inzest. Das Urteil des
       > Bundesverfassungsgerichts hat das Verbot aufrechterhalten. Zu (Un-)Recht?
       
 (IMG) Bild: "Die Kindheit des Zeus" von Lovis Corinth: In der Mythengeschichte wimmelt es nur so von inzestuösen Beziehungen, so auch bei Zeus.
       
       PRO: Es waren nicht die besten Gründe, die das Bundesverfassungsgericht
       gestern zur Aufrechterhaltung des Inzestverbots vorzutragen wusste.
       Selbstverständlich sind die "eugenischen Gesichtspunkte", von denen die
       Richter sprachen, nicht nur deshalb fragwürdig, weil niemand zwei
       Allergikern verbieten kann, miteinander ein Kind zu zeugen. Sie sind es vor
       allem, weil die implizite Diskriminierung von Behinderten inakzeptabel ist.
       Selbstverständlich bereitet es den aufgeklärten Beobachter auch Unbehagen,
       wenn Verfassungsrichter von einer "lebenswichtigen Funktion der Familie"
       daherreden. All das kann man kritisieren, ebenso wie man den Paragrafen 173
       in seiner jetzigen für kritikwürdig befinden kann.
       
       Das Inzestverbot selbst aber - im Sinne einer absoluten gesellschaftliche
       Norm, als Tabu - ist mehr als irgendein Gesetz. Und es ist auch keine mit
       einer aufgeklärten Gesellschaft unvereinbare archaische Vorschrift, sondern
       das Gegenteil davon: nämlich die, um mit den Worten von dem Anthropologen
       Claude Lévi-Strauss zu sprechen, Voraussetzung von Gesellschaftlichkeit
       schlechthin. Und damit die Voraussetzung von Aufklärung und Moderne. Es ist
       so gut wie keine Gesellschaft bekannt, die den Inzest nicht sanktioniert
       hätte. Dieser Universalismus steht in einem merkwürdigen Widerspruch dazu,
       dass es in der Mythengeschichte von inzestuösen Beziehungen nur so wimmelt:
       Zeus und Hera, Frey und Freya, Kain, Set und ihre anonymen Schwestern.
       Sigmund Freud hat mit dies mit einem Trieb zum Inzest, dem "ödipalen
       Begehren" erklärt und dessen Sublimierung zur ersten zivilisatorischen
       Leistung. Dieses Verbot ermöglicht die Unterscheidung zwischen Familie und
       Gesellschaft. Es ist keine Einschränkung von Persönlichkeitsrechten,
       sondern Bedingung ihrer Entfaltung.
       
       Schließlich beinhaltet das Verbot auch ein Gebot: Wer einen Partner und
       eine Partnerin sucht, muss in die Welt hinaus, und sei es nur bis ins
       nächste Dorf. Das aber bedeutet: Kommunikation, Austausch, Mobilität,
       Fortschritt. Das Gegenteil ist das sprichwörtliche Alpenkaff, das seit
       Jahrhunderten im eigenen Saft schmort und zeugt.
       
       Dennoch lässt sich dem Umstand, dass wir sogar über die älteste
       zivilisatorische Norm verhandeln können, etwas positives abgewinnen: Nach
       den rationalen Gründen eines Tabus zu fragen ist besser, als es ungefragt
       zu akzeptieren. Doch ein aufklärerischer Akt bleibt dies nur, so lange man
       nicht hinter das zurückfällt, was Moses, Solon und all die unbekannten
       Priester und Häuptlinge wussten.
       
       Und: Sechs Milliarden Menschen bieten eine prächtige Auswahl; also, warum
       sollte man mit seinen Geschwistern in die Kiste springen? VON DENIZ YÜCEL 
       
       CONTRA: Wer in das Persönlichkeitsrecht eines Menschen eingreifen will,
       sollte gute Gründe haben. Um es gleich zu sagen: Für das Inzestverbot
       liegen solche Gründe nicht vor.
       
       Wen man (körperlich) liebt und wen nicht, geht niemanden etwas an. Schon
       gar nicht den Staat. Deshalb wurde das Inzestverbot in Frankreich bereits
       1810 unter Napoleon aufgehoben. Heute existiert es auch in Holland oder
       Spanien nicht mehr.
       
       Das Inzesttabu hat seinen rechtlichen Ursprung im Alten Testament und war
       eine Regel, mit der sich damals das jüdische Volk gegen die Ägypter
       abgrenzte, deren Pharaonen traditionell Geschwister ehelichten. Über
       weitere Gründe kann man heute nur noch spekulieren. Aber diese religiöse
       Tradition der Verdammung der "Blutschande" ist die Ursache, dass es heute
       noch im Strafgesetzbuch steht: kein guter Grund, Menschen ins Gefängnis zu
       werfen.
       
       Zur Rechtfertigung des Inzestverbots werden heute vor allem drei Gründe
       angeführt: Erstens steigt unter engen Verwandten die Wahrscheinlichkeit,
       Krankheiten zu vererben. Das ist zwar richtig, doch dann müsste man auch
       (gesunden) Elternpaaren, die ein Gen für die tödliche Mukoviszidose tragen,
       den Sex verbieten. Und Allergiker müssten sich nichtallergische Partner
       suchen, da ihre Kinder sonst mit doppelter Wahrscheinlichkeit Allergiker
       werden.
       
       Das wäre unerhört: Einem Paar die Fortpflanzung zu verbieten, verstößt
       gegen die Menschenwürde.
       
       Zweitens wird mit Inzest meist sexueller Missbrauch in Verbindung gebracht,
       etwa der Tochter durch den Vater. Das ist schlimm, doch hier greifen andere
       Strafparagrafen. Das Inzestverbot trifft dagegen auch Fälle echter Liebe.
       
       Als dritter und letzter Grund wird die "Störung der Familie" angeführt,
       wenn dort zum Beispiel Geschwister Sex haben. Nur passiert genau das in der
       Regel nicht.
       
       Wie man aus der Studie von israelischen Kibbuz-Lieben und von frühkindlich
       arrangierten Hochzeiten in Taiwan weiß, hat es die Natur so eingerichtet,
       dass sich Kinder, die in ihren ersten sechs Jahren zusammen aufwachsen,
       extrem selten ineinander verlieben - egal ob verwandt oder nicht. So kommt
       es, wie im Fall der Klägerin vor dem Verfassungsgericht, Susan K., in der
       Regel nur dann zum Inzest, wenn die Geschwister (oder andere eng Verwandte)
       völlig getrennt aufgewachsen sind. Und sich dann finden.
       
       Vermutlich ist diese natürliche Inzestschranke auch der Grund, warum - laut
       Umfragen - die meisten Inzest schlimm finden. Weil wir das Falsche
       assoziieren. So schützt der Paragraf 173 des Strafgesetzbuches am Ende
       nichts - außer unsere Vorurteile.
       
       VON MATTHIAS URBACH
       
       14 Mar 2008
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Deniz Yücel
       
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