# taz.de -- Porträt: Die vier Leben des Werner O.
       
       > Er war der erste grün-alternative Baustadtrat Deutschlands und Vorkämpfer
       > der behutsamen Stadterneuerung in Kreuzberg. Am Dienstag wird Werner
       > Orlowsky 80 Jahre alt.
       
 (IMG) Bild: Die Straßen rund um den Marheinekeplatz, das war und ist Orlowskys Pflaster.
       
       Gegen so viel Vergangenheit hat es die Gegenwart schwer. "Mein
       Tagesablauf?" Werner Orlowsky zögert einen Moment, dann zählt er auf:
       aufstehen um acht, zum Frühstück "Morgenmagazin". "Manchmal gucke ich auch
       Phönix, interessante Sendungen. Anschließend gehe ich einholen, meine
       Morgenrunde durch den Kiez." Sein Kiez, das sind die Straßen rund um den
       Kreuzberger Marheinekeplatz. Er kennt sie aus der Westentasche, so wie
       Kreuzberg auch ihn kennt - Werner Orlowsky, den Drogisten vom Kotti, den
       "Dicken" von der Alternativen Liste, den ersten grün-alternativen
       Baustadtrat in Kreuzberg und damit der ganzen Bundesrepublik Deutschland.
       
       Immerhin hat Orlowsky, dem die Haartolle noch immer ungebändigt auf dem
       Kopf steht, seiner Gegenwart ein Leben eingeräumt, eines von insgesamt
       vieren, wie er sagt. "Das erste war meine Kindheit und Jugend in Berlin:
       Flakhelfer, Verwundung, dadurch bin ich der Gefangenschaft entgangen." Das
       zweite Leben des Werner Orlowsky fand in der Dresdner Straße 19 statt. Dort
       führte der studierte Historiker und Philosoph ein Fachgeschäft für
       Drogerie- und Parfümeriewaren. "Unglaubliche Gewinnspannen waren das",
       erinnert er sich. "Der Einkaufspreis für eine Packung London betrug 30
       Pfennig, im Laden gingen die Kondome für 2 Mark über den Tisch." Orlowskys
       Familie ging es gut. "Wir hatten ein Auto, fuhren in den Urlaub, jedes
       Jahr."
       
       Bis die Sanierer kamen und die Dresdner Straße dem Erdboden gleichmachen
       wollten. Da begann Orlowskys drittes und vielleicht bekanntestes Leben. Er
       wurde Sanierungsbetroffener, leistete Widerstand, gewann das Vertrauen der
       Kreuzberger. 1981 stellte ihn die Alternative Liste (AL) als parteilosen
       Kandidaten für das Bezirksamt auf. Orlowsky wurde Baustadtrat von
       Kreuzberg. So prägend war dieses dritte Leben für ihn, dass er sein viertes
       Leben, das nach zwei Amtsperioden 1989 folgte, nur kurz streift. Auf seiner
       Visitenkarte hat er es mit einem a. D. abgestempelt - Baustadtrat außer
       Dienst.
       
       Gedächtnis vom Kiez
       
       Orlowsky empfängt in seiner Wohnung in der Kreuzberger Heimstraße mit einem
       flotten Spruch: "Na, ist das die Tür eines fast Achtzigjährigen?" Er zeigt
       auf die rot-schwarzen Anarchoaufkleber, auf das Che-Guevara-Plakat, im Flur
       hängt eine BZ-Titelseite aus den Achtzigern "Baustadtrat bekam blaues
       Auge". Nicht Autonome haben ihn zugerichtet, sondern ein paar
       Unverbesserliche, die ihn zuvor als "Kommunistenschwein" beschimpft hatten.
       In einer anderen Ecke liegt ein Straßenschild. Das haben ihm ein paar
       Freunde zum 70. Geburtstag geschenkt, verrät er stolz. "Dresdner Straße 19"
       steht auf dem Schild, die Adresse seiner Drogerie, die plötzlich wegsaniert
       werden sollte. Das Straßenschild dient in Orlowskys Wohnung ebenso dem
       Gedenken an das dritte Leben wie das umfangreiche Archiv, das die ganze
       Wand des zweiten Zimmers einnimmt - gewissermaßen das linke Gedächtnis
       Kreuzbergs.
       
       Wenn einer wie er Geburtstag hat, einen runden zumal, ist der Rummel groß.
       Zum 65. hat die taz getitelt "Vom Häuserkampf lässt der Dicke nicht". Jahre
       vorher hat die Zeit bereits eine Homestory gebracht. Die Schlagzeile:
       "Alternativ und barock". Zu seinem 76. Geburtstag hat die Kreuzberger
       Chronik ein Porträt des Drogisten veröffentlicht mit dem schlichten Titel
       "Werner Orlowsky". Zu seinem 80. Geburtstag, den er am heutigen
       Dienstagabend im Kato am Schlesischen Tor feiert, will Orlowsky nun nichts
       mehr dem Zufall überlassen. "Nein, meine Memoiren habe ich nicht
       geschrieben", lacht er. "Warum, das weiß ich auch nicht." Geschrieben hat
       er trotzdem - seinen Lebenslauf. Der liegt, kopiert, auf dem
       Wohnzimmertisch bereit. Wenige Tage vor dem Festtag geben sich in seiner
       Wohnung die Journalisten die Klinke in die Hand.
       
       Akribisch hat Orlowsky die Stationen seines Lebens notiert und erstmals
       auch die Anekdoten, die es mit sich brachte: die Vermittlungsgespräche, die
       er, der gewählte Gewerbevertreter in der Betroffenenvertretung Kottbusser
       Tor, mit Hausbesetzern und Politikern wie Hans-Jochen Vogel, Richard von
       Weizsäcker oder Heinrich Lummer führte. Das Gerangel um seine Wiederwahl
       1985. Für Orlowsky hat die Alternative Liste die Rotation ausgesetzt und
       den ersten Personenwahlkampf ihrer Geschichte inszeniert. Auf den Plakaten
       stand "Unser Dicker ist der Beste - Bürgermeister für Kreuzberg". "Doch die
       SPD schoss diesmal quer", erläutert "der Dicke" die Notizen. Erst nach
       mehreren Wahlgängen bekam Werner Orlowsky die nötigen Stimmen - von der
       CDU. "Im Hintergrund hatte Klaus-Rüdiger Landowsky die Strippen gezogen."
       
       Und das vierte Leben? Jenes nach dem Schüler, Studenten, Drogisten und
       Baustadtrat Orlowsky? Was treibt ihn um? Was lässt er sein? Wohin strebt
       die Erinnerung? Nur ins Damals oder auch ins Hier und Jetzt?
       
       Orlowskys Hier und Jetzt, das wird schon bei der Begrüßung deutlich, hat an
       Reichweite verloren. "Mein Stock", sagt er, ganz trocken, nicht ohne den
       Scherz gleich als Zugabe. "Eigentlich brauch ich ihn gar nicht, ich trage
       ihn eher vor mir her - als Marschallstab." Aber zur Geburtstagsfeier ins
       Kato will er ihn mitnehmen, den Stock, sicher ist sicher. Zwar ist die
       Feier eine Überraschung, ein Geschenk der "alten Garde" an den Jubilar.
       Ganz will Orlowsky die Regie aber nicht aus der Hand geben. Er lacht und
       wedelt mit dem Stock. Der Marschall und seine alte Garde. Denen zeigt ers,
       wenns sein muss. Und wenn er erschöpft ist, hat ihm Rainer Sauter, einst
       Weggefährte in Kreuzberg, versprochen, kann er sich setzen. Auf der Bühne
       wird ein Sessel stehen, einer nur, für Werner Orlowsky.
       
       Zum Lachen war ihm in den letzten Jahren nicht immer zumute. Da war die
       Geschichte mit den Stürzen. Der erste draußen in Brandenburg bei einem
       Familienbesuch. Auf einem Podest stand er da, plötzlich brach eine Bohle.
       Orlowsky kam ins Krankenhaus. Das zweite Mal stürzte er in seinem Kiez.
       "Eine überstehende Gehwegplatte", sagt er entschuldigend. Die Unfälle sind
       nicht spurlos an ihm vorübergegangen. "Gut bei Fuß bin ich nicht mehr",
       ärgert er sich. Vor allem die Angst, noch einmal hinzufallen, macht ihm zu
       schaffen. Auch aufs Fahrrad traut er sich nur noch selten. "Lieber fahre
       ich mit dem Auto ins Grüne", sagt er. "Ins Schlaubetal zum Beispiel oder
       nach Motzen." Dort, am Motzener See, hat er sich mit seiner zweiten Frau
       ein Wochenendgrundstück gekauft. Dort verbringen sie die Zeit zusammen, in
       Berlin lebt jeder für sich.
       
       Im Hier und Jetzt hat auch sein erstes Leben Spuren hinterlassen -
       allerdings weniger der Philosoph als der Historiker. "Alle Hitlerbiografien
       habe ich gelesen", sagt Orlowsky, "und alles über 68, Norbert Frei ebenso
       wie den unsäglichen Götz Aly." Das mit 68, gibt er zu, hat auch was mit
       Nachholbedarf zu tun. "Damals ging das an mir vorbei. Ich war ganz mit
       meiner Drogerie beschäftigt und mit meiner Familie." 1958 kam die erste
       Tochter, 1960 die zweite. Das Ende seines Drogistenlebens 1981 war zugleich
       das Ende der Familie. "Nach 30 Jahren wollte meine Frau ein neues Leben
       beginnen. Sie ist gegangen." Orlowsky ging in die Politik. Als sein 68
       begann, war er schon 53 Jahre alt.
       
       Was den Hobbyhistoriker Orlowsky von den Profis der Zunft unterscheidet,
       ist seine Vorsicht beim Bilanzieren. Lieber redet er über die Geschichte
       der behutsamen Stadterneuerung als über ihr Vermächtnis. Nur einmal hat er
       sich genötigt gesehen zurechtzurücken. Das war, als der Stadtplaner Dieter
       Hoffmann-Axthelm die Kreuzberger Sanierungsgeschichte in Bausch und Bogen
       verdammt hatte. "Der Weg des Stadtviertels aus dem gewaltsamen Zugriff der
       Bagger in die behutsame Belagerung der Sozialplaner hatte dauerhafte
       Folgen: Die neue Behutsamkeit legte sich als Wundverband über das alte
       Viertel. Man fühlt sich seitdem als Opfer, glaubt, für alle Zeit
       Forderungen stellen zu dürfen, ohne dafür Verantwortung übernehmen zu
       müssen." Die behutsame Stadterneuerung, so die Bilanz Hoffmann-Axthelms,
       habe Kreuzberg unfähig gemacht, angemessen auf die Herausforderungen des
       Mauerfalls zu reagieren. Stimmt nicht, entgegnete Orlowsky in einer Replik.
       "Um seine Identität und damit sich selbst zu bewahren, darf sich Kreuzberg
       keine Selbstzweifel einreden lassen." Für einen "grundsätzlichen
       Kurswechsel" sah er keinen Anlass. Vielmehr gelte es, "konsequent die
       demokratischen Errungenschaften zu verteidigen, und, vom Erreichten
       ausgehend, sich auch weiterhin für alles Neue offenzuhalten: erhalten und
       gestalten".
       
       Zwiespältiger Rückblick
       
       Ganz diesem Credo verpflichtet hatte Orlowsky bereits kurz nach dem Fall
       der Mauer Aufbauhilfe im Osten geleistet, hat kräftig mitgemischt beim
       Aufbau von Mieterberatungen und Verwaltungsstrukturen. "Wanderprediger"
       nennt er diese Station in seinem Lebenslauf. Heute ist er sich da aber
       nicht mehr so sicher. "Im Rückblick", versucht er sich doch noch in einer
       Bilanz, "besteht das Problem darin, dass es uns nicht gelungen ist, der
       baulichen Veränderung auch eine soziale folgen zu lassen." In Kreuzberg,
       sagt er, habe die Sanierung die weitere Armut nicht verhindert, in
       Prenzlauer Berg nicht die Schickimickisierung. "Vor allem in Kreuzberg",
       sagt er und senkt seine Stimme, "bringt das weitere Probleme mit sich."
       Angesichts der Parallelgesellschaften, grübelt er, "ist vielleicht doch
       nicht Integration das wichtigste Thema, sondern Assimilation". Er schüttelt
       den Kopf, als könne er selbst nicht glauben, was er da grade gesagt hat.
       
       Zum Abschluss ein Gang durch die Wohnung. Es ist seine eigene, so wie auch
       das Haus seinen Bewohnern gehört. Die Küche modern, amerikanisch, die
       Toilette klein und beengt, wie damals. Der Blick zum Hof geht auf einen
       Friedhof. "Dort werden wir einmal alle liegen", sagt er. Es klingt fest und
       bestimmt, gegen dieses Schicksal lässt sich keine Bürgerinitiative gründen.
       Doch das ist Zukunft. Vorerst steht auf dem Hof, noch vor dem Friedhof, ein
       weiteres Straßenschild. "Platz des 18. März". "Das hat Bürstenschröder
       aufgestellt, jahrelang hat er sich für einen Platz des 18. März
       starkgemacht."
       
       Nun gibt es den Platz zu Ehren der Märzrevolutionäre zweimal in Berlin: am
       Brandenburger Tor und in einem Kreuzberger Hinterhof. Damit aber,
       versichert Orlowsky, der Mann mit den vier Leben, habe er wirklich nichts
       zu tun. "Das war Bürstenschröder. Aber zugestimmt habe ich natürlich, wir
       leben schließlich in einer Hausgemeinschaft."
       
       8 Apr 2008
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Uwe Rada
       
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 (DIR) Nachruf
       
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