# taz.de -- Menschliches Genom: Schrumpfende Y-Chromosomen
       
       > Das Erbgut des Menschen ist wandlungsfähig. Aber was bedeutet es, wenn
       > ausgerechnet das Chromosom, das den Mann zum Mann macht, immer kleiner
       > wird?
       
 (IMG) Bild: Sterben nun die Männer aus? Die Chippendales in Berlin
       
       Bis vor kurzem galt es Genetikern noch als "jugendlicher Delinquent". Denn
       auf das Y-Chromosom passte die Beschreibung: reich an Müll, unfähig, sich
       mit seinen Nachbarn zu vertragen, und mit einer unausweichlichen Tendenz zu
       degenerieren. Heute sprechen die Wissenschaftler freundlicher über das
       Chromosom, das den Mann zum Mann macht. "Schließlich lassen sich mit seiner
       Hilfe hervorragend Veränderungen in der Erbsubstanz studieren", so Gudrun
       Rappold, Humangenetikerin an der Universität Heidelberg.
       
       Veränderungen, die Genetiker so gar nicht erwartet haben. Schließlich ging
       man lange davon aus, dass die Erbsubstanz ein relativ statisches Gebilde
       ist. Laut Lehrbüchern gilt die Entwicklung der Menschheit schon am Ende der
       Steinzeit als beendet. Heute weiß man jedoch: Das Genom wandelt sich nicht
       nur im Laufe der Evolution, sodass neue Spezies entstehen - es wandelt sich
       auch durch kulturelle Leistungen wie die Erfindung des Ackerbaus, und sogar
       während eines Menschenlebens werden Stellschräubchen in der DNA verändert,
       was das Krankheitsrisiko beeinflussen kann.
       
       Forschungen am Y-Chromosom haben etwa gezeigt, dass Chromosomen erheblich
       schrumpfen können. Der Männermacher im Genom hat in den letzten 300
       Millionen Jahren zwei Drittel seiner Größe eingebüßt - in evolutionärem
       Maßstab wandelt er sich also unheimlich schnell, es nimmt laufend Gene auf
       und wirft andere über Bord. Das Chromosom beherbergt nur 78 derzeit
       bekannte Gene, 50 Prozent davon sind Dopplungen. Zum Vergleich: Das
       X-Chromosom kann über 1.000 Gene vorweisen. Jedes zweite auf dem
       Y-Chromosom befindliche Gen hat lebensnotwendige Aufgaben und ist darum in
       allen Körperzellen aktiv. Die anderen Gene werden nur in den
       spermienproduzierenden Geweben der Hoden eingeschaltet. Das wichtigste Gen
       auf dem Y-Chromosom ist das SRY-Gen. Es veranlasst im männlichen Embryo die
       ersten Schritte zur Entwicklung der Geschlechtsorgane und der Spermazellen.
       
       In 125.000 Jahren könnte das Y-Chromosom jedoch vollends verschwunden sein.
       An seinem Untergang ist das Chromosom jedoch selber schuld. Schließlich hat
       es im Laufe der Zeit den Austausch einzelner Gene mit seinem Partner, dem
       X-Chromosom, sprich: Rekombination weitestgehend unterbunden. Das hat
       jedoch zur Folge, dass sich fatale Mutationen anhäufen und Gene still
       gelegt werden.
       
       "Stirbt damit der Mann aus?", wird sich nun so manch einer fragen.
       Wissenschaftler sind hier optimistisch. Eine Vermutung von der Heidelberger
       Wissenschaftlerin Rappold: "Das SRY-Gen könnte auf ein anderes Chromosom
       springen." Andere Forscher glauben, dass das Y-Chromosom nicht verschwinden
       wird, dass es vielmehr für die Erhaltung der Art Homo sapiens wichtige Gene
       aufnimmt, in der jüngsten Vergangenheit etwa Fruchtbarkeitsgene, um seinem
       Untergang zu entgehen.
       
       Aber nicht nur innerhalb des Zellkerns findet eine ständige Neuordnung
       statt. Forscher beobachten auch, dass Gen-Schnipsel aus den Mitochondrien
       in den Zellkern wandern und dort integriert werden. Die Folge: davon
       betroffene Menschen können anfälliger für Krebs oder Herzinfarkt sein.
       
       Erhellend für Genomforscher sind auch die vielen nicht codierenden Regionen
       im Y-Chromosom und das Auftreten von chromosomalen Genbereichen in
       mehrfacher Ausführung, so genannten CNVs. Die Hälfte der Y-Gene sind
       Kopien. Früher abschätzig als "Junk-DNA" oder "genetische Wüste" tituliert,
       weiß man es heute besser: diese vermeintlichen Nonsens-Regionen haben
       wichtige Steuerfunktionen inne. Sie walten darüber, ob Gene aktiviert oder
       stillgelegt werden. Immerhin ist im Genom nur jedes zehnte Gen codierend,
       während die restlichen 90 Prozent nicht als Blaupause für Proteine
       herhalten.
       
       Weiterhin verblüffend für die Forscher sind die vielen Gen-Doppelgänger,
       die auf dem Genom verstreut sind. Gudrun Rappold hat beispielsweise im Jahr
       2005 Y-Gene entdeckt, die in chromosomalen Bereichen liegen, die für die
       Größe von Männern und die Entstehung eines Gonadoblastoms verantwortlich
       sein könnten - und die sich als ähnliche, aber nicht identische Duplikate
       auch noch auf diversen weiteren Chromosomen tummeln. Eine Studie von Carl
       Bruder, Genetiker an der Universität von Alabama, von vergangenem Februar
       hat zudem belegt, dass sogar bei Zwillingen unterschiedlich viele solcher
       CNVs vorliegen, sich ihr Genom also keineswegs 100-prozentig gleicht. Was
       die vielen Kopien allerdings für eine Bedeutung haben, ist bislang unklar.
       "Vermutlich werden sie innerhalb des Lebens erworben und prägen die
       Individualität des Menschen", so Carl Bruder. Andere Forscher sind
       überzeugt, dass CNVs und nicht Mutationen in der Erbsubstanz für eine Reihe
       von genetischen Krankheiten und Fehlbildungen verantwortlich sind.
       
       Die größte Revolution in der Genforschung geht derzeit jedoch von der
       Entzifferung sogenannter Single-Nukleotid-Polymorphismen (SNPs) aus.
       Hierbei handelt es sich um Variationen im Gencode. Einzelne Nucleotidbasen
       sind vertauscht, mit der Folge, dass Gene zwar noch abgelesen und in
       Proteine übersetzt werden können, dies aber entweder wesentlich langsamer
       oder auch schneller abläuft. So verfügen zwei Menschen zwar schätzungsweise
       über eine über 99-prozentige Übereinstimmung in ihrem Gencode, viele
       Millionen Sequenzen können sich dabei jedoch auch unterscheiden. Aussehen,
       Persönlichkeit und Krankheitsanfälligkeit werden uns durch diese SNPs
       diktiert. Das Jahr 2007 wurde gar als das Jahr der "genomewide association
       studies" ausgerufen, weil man so viele SNPs entschlüsselt hat, die etwa bei
       der Entstehung von Herzinfarkt, Diabetes-Typ-2 oder Morbus Crohn eine Rolle
       spielen.
       
       Die Minivariationen geben aber auch Aufschluss darüber, wie sich das
       menschliche Genom in den letzten 50.000 Jahren umorganisiert hat. Der
       Selektionsdruck kam vom Sesshaftwerden des Menschen, mit dem Beginn der
       Landwirtschaft. Sieben Prozent des Humangenoms haben sich mit dieser
       Kulturleistung gewandelt, so haben Forscher der Universität von Kalifornien
       berechnet. Heute verfügen wir darum über eine DNA, die den
       Proteinstoffwechsel unterstützt, die uns Milchzucker besser vertragen
       lässt, die unsere Widerstandskraft gegen Infektionen stärkt und die unsere
       Gehirnfunktionen, etwa unser Geruchsempfinden, beeinflusst.
       
       Das Y-Chromosom weist vergleichsweise wenige SNPs auf. Trotzdem sind auch
       diese von hohem gesellschaftlichem Interesse: Sie werden routinemäßig bei
       Vaterschaftstests genutzt.
       
       3 Jul 2008
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Kathrin Burger
       
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