# taz.de -- Das Verhältnis zum Tier: Aufessen oder streicheln?
       
       > Das Bekenntnis zu einem veganischen Lebensstil ist längst mehr als ein
       > Spleen: Auch wer nur Bio-Fleisch kauft, kann kein gutes Gewissen haben.
       
 (IMG) Bild: Niedliches Kälbchen - aber früher oder später wollen ihm alle nur ans Leder.
       
       Vorbei sind die Zeiten, als Vegetarismus ein Spleen einiger weniger war.
       Wer heute Freunde zum Abendessen einlädt, ahnt: Ein Vegetarier wird
       mindestens darunter sein. Kein Hausarzt versucht heute mehr, seinen
       Patienten zum Verzehr des berühmten Stückes "Lebenskraft" zu bewegen, und
       wenn sich in der Kantine eine Vegetarierin zu ihren Kollegen mit dem
       Gulasch setzt, regnen keine verwunderten Fragen mehr auf sie ein. Leider
       hat das Statistische Bundesamt noch keine Zahlen zum Vegetarismus in
       Deutschland erhoben; dass der Fleischverbrauch insgesamt zurückgeht, sagt
       schließlich nichts über individuelle Verteilung und Beweggründe aus.
       Bereits fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung sollen Vegetarier sein -
       schätzen Vegetarierverbände. Aus diversen Teilerhebungen gilt als gesichert
       allerdings nur, dass es mehr Frauen sind als Männer, mehr Gebildete als
       Ungelernte und dass der Gedanke, man dürfe Tiere nicht verspeisen, in der
       jungen Generation schon geradezu endemisch ist.
       
       Und kaum wird diese Meinung von der (erwachsenen) Mehrheit zwar nicht
       geteilt, doch immerhin akzeptiert, gibt es zunehmend Menschen, die in ihrem
       Konsumboykott noch weiter gehen: die Veganer. Sie tragen Schuhe ohne Leder,
       verzichten auf Honig, Milchprodukte und Ei. Soweit dies praktisch
       realisierbar ist, wollen sie auf nichts zurückgreifen, was Tieren "gehört"
       oder wofür Tiere "arbeiten" oder leiden mussten. Wenn heute also auch
       Nichtvegetarier die Gründe nachvollziehen können, die Vegetarier zu ihrer
       Lebensweise bewegen - ist dann Veganismus der neue Spleen?
       
       Die den Veganismus motivierende Grundsatzfrage - dürfen wir Tiere für
       unsere Zwecke (be)nutzen? - wird im philosophischen Kontext selten
       gestellt. Seit den Siebziger-, spätestens den Achtzigerjahren kehrte unter
       dem Stichwort "Tierethik" die Diskussion um den moralischen Status von
       Tieren in die akademische Philosophie ein. Im angelsächsischen Raum sind
       ihre prominentesten Vertreter Peter Singer und Tom Regan, im
       deutschsprachigen Ursula Wolf. Doch lag in der akademischen Disziplin
       Tierethik der Fokus lange auf der Frage, ob Tiere und ihr Wohl und Wehe
       überhaupt moralisch zu berücksichtigen sind. Sie wird inzwischen von vielen
       Vertretern auch unterschiedlicher moraltheoretischer Ansätze bejaht, und
       zwar genau auf der Grundlage tierischer Empfindens- und Leidensfähigkeit:
       Tiere mögen keine Personen sein, über kein Bewusstsein ihrer selbst und der
       Dimension der Moral verfügen; doch ihr Leiden ist moralisch relevant.
       
       Von dieser Frage wird eine zweite meist abgekoppelt, nämlich ob und wann
       wir Tiere töten dürfen. Dies ist sozusagen die Frage der Vegetarier: Ist
       der Wunsch nach Genuss ein moralisch hinreichender Grund? Der breite
       philosophische Konsens, dass tierisches Leid zu vermeiden sei, schmälert
       sich bei der Antwort auf die Tötungsfrage drastisch; die Mehrheit der
       Philosophen findet die Tötung von Tieren weniger schlimm, weil Tiere keine
       Ahnung ihrer Zukunft, keine diesbezüglichen Pläne oder Hoffnungen haben;
       man raubt ihnen nach dieser Ansicht nichts, weil sie von dessen Existenz
       nicht wissen.
       
       Eine dritte Frage wäre nun die "vegane" Frage nach der grundsätzlichen
       Hierarchie zwischen menschlichem und tierischem Bedürfnis: Dürfen wir,
       soviel wir möchten, von einem Tier Gebrauch machen? Es ist letztlich die
       Frage nach Herrscher und Untertan, nach Meister und Knecht. Nicht von
       ungefähr drängt sich hier das Bild von Gottes Stellvertreter auf, als der
       der Mensch eingesetzt sei; wenn man der Idee von der Verfügbarkeit des
       Tiers für den Menschen ideengeschichtlich nachspürt, trifft man bald auf
       den Widerschein jenes alten religiösen Bildes von Gottes Auftrag: "Mehret
       euch und machet euch die Erde untertan."
       
       Doch dieses Bild, aus der Nähe betrachtet, ist nicht so eindeutig, wie es
       sowohl Anhänger als auch Kritiker gerne meinen. Dem Alten Testament nach
       ist die heutige Welt der Fleischesser Ergebnis einer Fehlentwicklung, läuft
       Gottes ursprünglichem Plan zuwider, von Ihm nur gebilligt aus einer Art
       Resignation. Im Garten Eden erlaubte Er Adam und Eva nur, (fast alle)
       Früchte zu essen. Das oft angeführte Zitat aus der ersten
       Schöpfungsgeschichte lautet zwar, "herrscht über die Fische des Meeres,
       über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Lande
       regen" (1, 1, 28). Direkt danach geht es aber weiter: "Dann sprach Gott:
       Hiermit übergebe ich euch alle Pflanzen auf der ganzen Erde, die Samen
       tragen, und alle Bäume mit samenhaltigen Früchten. Sie sollen euch zur
       Nahrung dienen." Vom Jagen und Fischen ist hier nicht die Rede. Erst an
       späterer Stelle, als Gott von der Entwicklung des Menschen so enttäuscht
       ist, dass er am liebsten alle atmenden Lebewesen vernichten würde, lässt er
       sich durch Noahs Opfergaben zur Milde bewegen; von nun an gestattet er den
       Fleischverzehr (1, 9, 3), und "Furcht und Schrecken vor euch soll sich auf
       alle Tiere der Erde legen". Wo immer eine Tierart seither dem Menschen
       begegnete, haben Furcht und Schrecken dies auch auftragsgemäß getan.
       
       Im Koran, der sich selbst als jüngstes Glied in derselben
       Offenbarungstradition begreift, ist der Mensch Statthalter Gottes auf
       Erden; gleichzeitig mahnt der Koran: "Keine Tiere gibt es auf Erden und
       keinen Vogel, der mit seinen Schwingen fliegt, die nicht Völker sind wie
       ihr" (6, 38). Der Prophet Mohammed verbot seinen Anhängern, Tieren die
       Ohren zu schlitzen und sie am Hals zu brandmarken; und als Mohammed an
       einem Markt vorbeikam und junge Männer sah, die es sich während ihrer Pause
       auf den Rücken ihrer Kamele bequem machten, ermahnte er sie: "Behandelt die
       Rücken eurer Tiere nicht als Podest, denn Gott hat sie euch nur überlassen,
       damit ihr an Orte reisen könnt, die ansonsten schwer zu erreichen wären."
       
       In dieser jüdisch-christlich-muslimischen Tradition, die wir so gerne für
       das Bild der Vorherrschaft des Menschen über die Tiere verantwortlich
       machen, wird diese Vorherrschaft also zwar tatsächlich legitimiert. Doch
       orientiert sie sich am Vorbild eines gütigen, friedliebenden Gottes, nicht
       an dem eines Despoten. "Bild Gottes" ist der Mensch, insofern er sich
       verantwortlich handelnd zu seinem Lebensraum samt den Lebewesen darin
       verhält. Selbst mit den Tieren pflegt er Gemeinschaft und schont sie durch
       unterschiedlichen Nahrungsgebrauch", schreibt der katholische Theologe
       Karl-Josef Kuschel über das Buch Genesis - und über den noachidischen Bund:
       "Bemerkenswert ist ohnehin, dass der Bund Gottes mit der Schöpfung von
       jeder Anthropozentrik frei ist." Der Mensch soll über die Erde herrschen,
       und kein guter Regent tötet mutwillig seinen Untertan.
       
       Wo aber beginnt Willkür, und in welchem Bereich gilt die menschliche
       Berechtigung, das Tier zu nutzen? Wo die religiösen Schriften auf Gottes
       Absicht verweisen, gabelt sich die säkulare Sprache in "Moral" und
       "Notwendigkeit". Das Verständnis beispielsweise, das Mohammeds Ausspruch
       über die Kamele ausdrückt, lässt sich leicht säkularisieren: Wir Menschen
       dürfen die Tiere benutzen - wo wir sie brauchen. Daraus folgt auch: sonst
       nicht. Offenbar dürfen wir die Tiere aber nicht etwa gebrauchen, weil wir
       vor ihnen ausgezeichnet wären - sondern weil wir ihnen in einem relevanten
       Punkt ähnlich, nämlich bedürftige Lebewesen, sind. Nach säkularem
       Verständnis darf der Mensch andere Tiere mit demselben Recht essen, mit dem
       auch andere Spezies jagen und töten. Es ist uns kein Vorwurf zu machen,
       wenn wir auf Kamelen durch die Wüste reisen, weil es auf bloßen
       Menschenbeinen eben nicht geht.
       
       An dieser Stelle setzen die Einwände der Vegetarier und Veganer an: Streng
       genommen brauchen wir heute weder Fleisch noch Kamele. Es gibt Tofu und
       Autos - Mensch, begnüge dich damit! Und dieses Argument ist auf direktem
       Wege auch schwer zu widerlegen. Auf indirektem Wege allerdings, beim
       zweiten Nachdenken, muss man einräumen: "brauchen" ist ein relativer
       Begriff. Zivilisation bedeutet unter anderem, dass man sich nicht nur von
       rohen Beeren ernährt, dass man Häuser baut, die mehr bieten als nur ein
       Dach über dem Kopf, dass man - mensch - Ressourcen verbraucht, nicht nur um
       zu überleben, sondern sinnvoll und auch genussvoll zu leben. Wo hört da das
       Normalmaß der Selbstbeschränkung auf, die man von einem Menschen verlangen
       kann, auf, und wo fängt die Askese des Heiligen an? Was der Mensch
       "braucht" und letztlich will, wird moralisch immer ins Verhältnis zu setzen
       sein zu dem, was das von ihm Begehrte für andere an Verlust und Schmerz
       bedeutet.
       
       Und unser Fleisch- und Milch- und Ei-Konsum bedeutet eben in der Tat für
       viele Tiere großes Leid - so lautet der nächste Gedankengang. Als Konsument
       neigt man zwecks Selbstschonung dazu, die entsprechenden Details an den
       Rand des Bewusstseins zu drängen. Doch sind es wirklich noch Details - oder
       kennen wir nicht vielmehr das gesamte schreckliche Bild? Wir wissen ja um
       die Schlachttransporte und sehen auf den Autobahnen Lkws voller Schweine,
       auf ihrem Weg in eine Hölle von Panik, CO2-Erstickung und Fließbandtod. Aus
       dem Fernsehen kennen wir das beengte Leben in den Ställen, die Kastrationen
       ohne Betäubung, Kühe, die sich kaum umdrehen können, und Kälber, die
       tagelang nach ihren Müttern schreien. Wir wissen, dass Biohaltung etwas
       besser ist; doch je mehr man die Einzelheiten kennt, desto verzweifelter
       fragt man sich: Ist das gut genug?!
       
       Übrigens ist nicht nur die Haltung und Schlachtung der Tiere eine Quelle
       der Qual, sondern bereits ihre Züchtung. Legendär sind die Kuh mit
       Euterhalter und das Schwein mit vervielfachten Rippen - keine skurrilen
       Ausnahmen, sondern die Regel. Auch das Huhn, das jeden Tag ein Ei legt,
       verausgabt sich bis zu seinem verfrühten Tode, und der Muskelapparat des
       Masthähnchens wächst so schnell, dass Skelett und Organe nicht mehr
       mitkommen. Versuche von Agrarwissenschaftlern haben gezeigt, dass die
       heutigen "Broiler" viele Angebote in ihren Ställen nicht annehmen - die
       Hähnchen laufen wenig herum, auf die Sitzstangen fliegen sie nicht hinauf.
       Verabreicht man ihnen jedoch ein Schmerzmittel, nimmt ihre Bewegung wieder
       zu - das heißt umgekehrt, das übliche Leben des Masthähnchens ist ein Leben
       voller Schmerz. Veterinärmediziner mahnen bereits, dass alle Tiere, die
       oder deren Produkte wir heute verzehren, krank sind, gemessen am gesunden
       Funktionieren eines tierischen Körpers. Verkrüppelungen, Knochenbrüche,
       Organschäden, Entzündungen, Tumore. Und wieder: Auch Biobetriebe setzen
       solche Züchtungen ein, sonst könnten sie im Konkurrenzkampf gar nicht
       bestehen.
       
       Die grausame Empirie industrieller Tieraufzucht- und Schlachtanstalten
       entkoppelt die Frage nach der Berechtigung zum Fleisch- und Milch- und
       Eiverzehr hier und jetzt von den grundsätzlichen Fragen nach der Nutzung
       von Tieren und ihrer Tötung. Jemand kann durchaus der Meinung sein, der
       Mensch dürfe andere Tiere benutzen, verzehren und zu diesem Zweck töten -
       grundsätzlich. Und wird doch, wenn er sich mit den Situationen in unseren
       Aufzuchtanstalten, Ställen und Schlachtereien vertraut gemacht hat, sagen:
       So geht es nicht! Man braucht nicht generell gegen Haarshampoos zu sein, um
       sich zu entscheiden: Shampoos, die auf der Grundlage von Tierversuchen
       hergestellt wurden, kaufe ich nicht.
       
       Sich dem Kauf von Eiern, von Milch und Käse zu verweigern, verlangt
       persönlichen Verzicht. Doch versteht sich der Veganismus weniger als
       private Askese denn als politischer Boykott. Ein Verzicht, im Kleinen und
       Stillen ausgeübt, wird den Millionen Tieren nicht helfen, die um anderer
       Konsumenten willen gezüchtet, in Enge gehalten, in Panik geschlachtet
       werden. Mindestens ebenso wichtig wie das private Kaufverhalten ist es,
       eine öffentliche Debatte in Schwung zu bringen, die viel strengere Maßstäbe
       anlegt als das, was heute das Biosiegel garantiert. Fälschlicherweise
       verlassen wir Konsumenten uns darauf, dass unsere Tierschutzgesetze und
       Ökobestimmungen die schlimmsten Übel schon verhindern werden - das tun sie
       nicht.
       
       Also müssen wir neuen Druck ausüben auf Verbände und staatliche
       Institutionen; und dazu ist im selben Maße derjenige aufgerufen, der den
       Schritt zum Veganismus nicht gehen mag oder kann. Vielleicht aber wird er
       (oder sie) nach einem genaueren Blick auf Veröffentlichungen und
       Internetforen der Veganer zugeben, dass dort ein enormes Sachwissen
       aufgefahren wird; ihre moralischen Argumente besitzen einige
       Überzeugungskraft. Und so mag die vegane Einstellung ebenso weit von
       unserer üblichen Alltagspraxis entfernt sein, wie sie für diese
       weitreichend ist oder wäre. Sie bedeutet eine Herausforderung für den
       kritischen Konsumenten. Ein Spleen ist sie nicht.
       
       HILAL SEZGIN, Jahrgang 1970, lebt als freie Publizistin in der Lüneburger
       Heide und betreut neununddreißig Schafe, vier Ziegen, zwei Gänse und zwölf
       Hühner, die sie niemals aufessen würde. Nach fünfundzwanzig Jahren als
       Vegetarierin lebt sie seit einem halben Jahr vegan
       
       30 Jan 2009
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Hilal Sezgin
       
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